Bieler Fototage 2004

«Das ist das Leben!»

www.annelisezwez.ch                               Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 3. September 2004

Die Bieler Fototage 2004 lassen die Fotoreportage hochleben. In Essays erzählen Bilder Geschichten. Der Titel «de la vie à la mort – de la mort à la vie» kreist sie ein. Am 3. September 2004 ist Vernissage.

Top möchte man rufen und sagen: Toll, was die Reportagefotografie uns an Bildern bringt, die Geschehnisse festhalten und Momente der Erinnerung schaffen. Top möchte man rufen und sagen: Toll, was die Fototage-Direktorin Barbara Zürcher und ihre Partner an Vielfalt ins diesjährige Thema «Vom Leben zum Tod – vom Tod zum Leben» hineinpacken. Und die Wette gilt.

Doch im Hintergrund hört man die Kritiker, die sagen, vom Aspekt des Mediums her bringe das Festival zu wenig. Da werde Fotografie und Bild-Wahrheit gleichgesetzt, als gäbe es keine Krise des Bildes. Es fehle das Experiment, die digitale Erweiterung.

Ganz unrecht haben die Kritiker nicht. Gerade die Präsenz des Werkes von Werner Bischof aus Anlass seines 50. Todestages (Museum Neuhaus) zeigt, dass sich die Leitsätze der Reportagefotografie nicht grundsätzlich verändert haben: Mit dem Anhalten der Zeit soll sich der Moment zur Erinnerung bündeln, auf dass diese mehr ist als nur das Abbild eines Geschehens. Bezeichnend, dass noch immer die Hälfte aller Fotografen mit den Gestaltungsmitteln der Schwarz-Weiss-Fotografie arbeiten.

Nichtsdestotrotz sind die Fototage 2004 ein über weite Strecken packendes Event. Weniger indes über das Medium, als über die Kraft der Bilder, die die neunzehn Fotografen und sieben Fotografinnen durch den «richtigen Moment», durch gezielte «Inszenierungen» und die gewählten Themen geschaffen haben. Und wie immer sind die besten Aufnahmen jene, die darüber hinaus aus verschiedensten Gründen am Puls der Zeit stehen.

Da ist zum Beispiel Markus Bühlers Liebesgeschichte von Uli und Thomas, einem kleinwüchsigen Paar. Dabei geht es nicht nur um ihr Glück im Kreis von anderen «Liliputanern», sondern auf einer zweiten Ebene auch um ihre Kinderwünsche und die Reaktion der Gesellschaft; ein heisses Thema in Zeiten, da die ersten Krankenkassen sich anschicken, für voraussehbare Behinderungen nicht mehr aufzukommen. Die Aufnahmen des 35-jährigen Lookat-Fotografen überzeugen durch grösstmögliche Alltäglichkeit und schwellenlose Nähe.

Da ist, in grösstmöglicher Distanz, der heute 80-jährige, einistige Trappistenmönch, der seit 40 Jahren im Alleingang eine Kathedrale baut, «um dem Himmel näher zu kommen». Der 34-jährige Jurassier Pierre Montavon hat den in art-brut-Kreisen kaum bekannten Spanier 1995 getroffen und seine Obsession als Konstrukteur und Bauherr in eindrücklichen Bildern festgehalten. Die Reportage wurde 2000/01 ausschnittweise veröffentlicht und in Ausstellungen gezeigt. Nicht alles, was diese Fototage präsentieren, ist brandneu. Die thematische Relevanz wurde höher bewertet. Was sicher richtig ist.

Für die meisten Fotografinnen und Fotografen, die Barbara Zürcher eingeladen hat, steht die Fotoreportage – sei es für Zeitungen, Magazine oder andere Auftraggeber – im Zentrum ihrer Tätigkeit. Obwohl in den Printmedien immer weniger Platz dafür zur Verfügung steht. Eine wichtige Ausnahme sind die «Zeitbilder» in der Wochenend-Ausgabe der NZZ. Teile von Jordis Antonia Schlössers Reportage zur Entvölkerung der Plattenbauten in Halle-Neustadt (Ostdeutschland) ist zeitgleich in Biel zu sehen wie sie in der NZZ publiziert werden (4.9.).

Zusammenarbeit ist ein Stichwort für die Fototage 2004. Was früher gefordert wurde, hatte die neue Leitung realisiert. So zeigen zum Beispiel die Fototage acht Kapitel im Photoforum, während das Photoforum für die zwei Ausstellungen im Dachstock der Alten Krone zeichnet. Und die «visarte» gab Carla Etter eine carte blanche für den «espace libre», was die 43-jährige Bieler Fotografin in Form einer eindrücklichen Hinterfragung der eigenen Lebensbilder einlöst; eine Art Autobiographie.

Auch die Publikation ist eine Zusammenarbeit. Die «etc.-publications» der beiden Schweizer Sven Ehmann ud Nicolas Bourquin (Berlin) haben eine Auswahl der Ausstellung in Eigenregie zum Bilderheft «c’est la vie» gebündelt. Eine satte Wahl, nahe an Freud und Leid. Mit dem «Tagebuch einer Exekution», mit der «Nierentransplantation», den «short people» usw. Gut aber zugleich, dass die Fototage als Ganzes nicht nur den Menschen fokussieren, sondern Leben und Sterben auch in geographische, ökologische, kulturelle, geschichtliche Kontexte stellen.

Bieler Fototage 2004: Orte und Teilnehmende:
Café Mariana: Schülerprojekte Corgémont/Biel-Bienne.
Rotonde: Christian Schwarz «Kreis 1».
Photoforum: Fabian Biasio «Tagebuch einer Exekution», Jérémie Gindre «Romans-photos». Marion Nitsch «Der Skilift». Marc Renaud «Security». Daniel Rihs «Nierentransplantation». Britta Rindelaub «Living areas». Judith Schlosser «Se sche was?» Daniel Schwartz «Wir sind das Geld».
Espace libre: Carla Etter
Museum Neuhaus: «Il lungo addio» – die italienische Emigration in die Schweiz. CD-Rom Werner Bischof. «Drei Leben für die Strasse», die Fotodynastie Reinhard.
Galerie Item: Pierre Montavon «La construction de l’impossible». Giorgio von Arb «La Corrida».
Alte Krone: Parterre: «Se marier à Bienne». Dachstock: An-dreas Seibert «Gyoshos». Céd-ric Widmer «Déménagement».
Boîte à images: Jordis Antonia Schlösser «Entvölkerung».
Oro Verde: Franca Pedrazzetti «Mensch und Hund».
Gewölbe-Galerie: Sergei Borrisow «Entfremdung».
Obergasse 27: Marc Latzl «Les femmes volantes de Théréan».


Auf den zweiten Blick

Im Zentrum der Bieler Fototage 2004 stehen Fotoreportagen. 26 an der Zahl. Was sind die Qualitätskriterien? Was ist Geschichte, was Bild? Was hält in der Form einer Ausstellung? Und was fällt durch?

Die Fotoreportage ist nicht einfach ein Schema. Die Bieler Fototage, die Bildgeschichten aus dem Füllhorn des Lebens zeigen, beinhalten verschiedene Formen: inszenierte, erzählende, begleitende, kommentierende, ganz aufs Bild ausgerichtete. Im besten Fall bündeln die einzelnen Kapitel mehrere Aspekte in einem. Und vermögen auch dem Anspruch „Ausstellung“ zu genügen.

Um ihre Qualitäten zu ermessen, gilt es da und dort, von der Emotionalität des Themas Abstand zu nehmen. Fabian Biasios „Tagebuch einer Exekution“ aus dem Blick der Schwester des 2003 in Texas hingerichteten James Colburn (Photoforum) packt vom Thema her a priori Leib und Seele: Eine Frau, die ihren Bruder lebendig zu Grabe tragen muss. Doch wie steht es um die Bild-Gestaltung, um die wortlose Erzählkraft, um die Präsentation? Es ist in diesem Fall die Erzählkraft, die fasziniert, will heissen, die in einer Raum-Ecke einsehbaren Bildlegenden sind zwar ein Surplus, aber nicht notwendig. Und die Bildformate halten den notwendigen Respekt; wir sind als Bildbetrachtende zwar immer noch Voyeure, aber mit Mass. Hingegen bleiben die Bilder von ihrer Gestaltung her an die Erzählung gebunden. Sie sind einzeln nicht genügend Bild, um sich, aus dem Kontext gelöst, in unabhängige Geschichten zu wandeln. Ähnliches, jedoch mit einem Plus an gestalteter Bildqualität, liesse sich von Judith Schlossers begleitender Reportage sagen, welche die Rückkehr einer Hirnschlagpatientin in ein neues, jedoch behindertes Leben schildert (ebenfalls im Photoforum).

Ist es überhaupt möglich Erzählung und Bildautonomie auf einen Punkt zu bringen? Ja und Nein. „Short people“ von Markus Bühler (Alte Krone) ist ein Beispiel, wobei der Abstrich die Erzählung trifft, die als Liebesgeschichte eigentlich banal ist. Bühler vermag indes die beiden Kleinwüchsigen ganz aus dem Bild, dem Bildausschnitt, der Bildinszenierung heraus zu liebenswerten „Bekannten“ zu machen. So, dass es nicht mehr um Thomas und Uli geht, sondern um „Freud und Leid“ der „Short People“ an sich. Und (fast) jedes Bild erzählt auch einzeln das Ganze. Ähnliches gilt für Eric Montavons „Porträt“ des 80jährigen Kathedralen-Bauers Pierre Montavon (Galerie Item).

Ein weniger geglücktes Beispiel ist „Démenagement“ von Cedric Widmer (Alte Krone), eine Reportage, die , so kann man nachlesen, vom Ende einer Beziehungs- respektive Wohngemeinschaft erzählt. Die Aufnahmen haben durchaus poetische Ausstrahlung, stehen somit als Bildgefässe da, vermögen auch „Abschied“ zu thematisieren, doch die Geschichte bleibt „privat“, sie schafft den Sprung in die freie Verfügbarkeit nicht.

Schwierig ist es, geopolitische Geschichten ganz ohne Text für sich selbst sprechen zu lassen. Ein Beispiel hiefür bieten Jordis Antonia Schlössers Aufnahmen aus sich entvölkernden Regionen in der Ex-DDR. Als NZZ-Zeitbilder liegen sie mit Text vor, in der Ausstellung (Boîte à Images) müssen sie als Bilder stehen. In der Konzentration auf Blicke, die ein Minimum an Geschehen zeigen – eine bügelnde Frau in einer von Zerfall gezeichneten Strasse, ein langarmiger Bagger, der einen vielstöckigen Platten-Bau abreisst – gelingt es der Fotografin indes, die Bilder zum „sprechen“ zu bringen, die Betrachtenden zu Miterlebenden zu machen, was Qualität bedeutet.

Die Fototage sind eine Folge von Ausstellungen. Es kann darum sein, dass Präsentation über Qualität mitentscheidet, zumindest ortsbezogen. So tragen zum Beispiel die konsequent quadratisch gehaltenen und auf Aluminium aufgezogenen Bilder der „fliegenden Frauen von Teheran“ wesentlich zum nachhaltigen Eindruck der Reportage von Marc Latzel bei (Obergasse 27). Umgekehrt verschenken Britta Rindelaubs Aufnahmen „aus der Welt des Kindes“ ihre Qualität, weil die Foto-Ausdrucke auf Büttenpapier farblich unbefriedigend sind und die grösseren Formate auf Aluminum im Korridor des Photoforums keine Distanzmöglichkeit bieten.

Positiv wiederum die „Kreis 1“-Bilder in den Fenstern der „Rotonde“, die Direktorin Barbara Zürcher eigens für Biel auf semitransparentes Gewebe drucken liess. Hier steigert die Präsentation, kombiniert mit dem richtigen Ort die Bildwirkung um ein Vielfaches und integriert überdies die Innenstadt samt Café Mariana (Foto-Experimente mit Schülern) ins Festival.

Die ungemein gut besuchte Vernissage vor einer Woche liess es bereits erahnen: Die positiv besetzte Tradition der Fototage und das menschennahe Thema sind Garanten für einen Erfolg. Die inzwischen erschienenen respektive ausgestrahlten Beiträge in den Medien bestätigen dies nun, in der Romandie wie in Teilen der Deutschschweiz. Einen Abstrich machen auswärtige Gäste indes: sie haben Mühe, die Lokalitäten (vor allem in der Altstadt) aufgrund des stark abstrahierten Ausstellungsplanes auch wirklich zu finden; trotz der gut platzierten rot-weissen Plakate.