Anne-Mie Kerckhoven Kunsthalle Bern 2005
Wohnungen für die digitale Welt
www.annelisezwez.ch Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 28. Januar 2005
Der Belgier Philippe Pirotte (32) wurde an die Kunsthalle Bern gewählt, um neue internationale Strömungen zu zeigen. Der Auftakt mit Anne-Mie van Kerckhoven ist eine intellektuelle Herausforderung.
Nein, einfach so konsumieren kann man die Ausstellung von Anne-Mie van Kerckhoven (53) nicht. 10 Jahre Arbeit am Projekt «HeadNurses» bündeln die Schau. Eine Arbeit mit ungewohnten Bildmechanismen, prozesshaft nach einer digitalen Realität für das Leben in der Zukunft suchend.
Philippe Pirotte setzt mit seiner ersten Ausstellung in der Kunsthalle Bern einen Akzent, der das Haus als Ort intensiver Wahrnehmung gegenwärtiger und zukünftiger Bildwelten positioniert. Das ist eine elitäre Haltung, die indes umso bedeutsamer ist, als sie in einer mehr und mehr zu uniformem Mainstream verkommenden Kultur immer seltener wird.
Die ältesten Arbeiten in der Ausstellung von Anne-Mie van Kerckhoven sind Zeichnungen von 1993. Sie zeigen in noch vertrauter «Schreibweise» eine Tendenz zur «Verflüssigung» der Gegenstandswelt. Figuren, Tische, Häuser, Bäume scheinen zu schmelzen und sich in neue Formen zu verwandeln.
Diesen Strom behält sie bei, doch wechselt sie das Medium, arbeitet längere Zeit in einem sich mit künstlicher Intelligenz befassenden Labor. Ihre Suche gilt nun der digitalen Bildmetamorphose vor dem Hintergrund allen Wissens, Denkens und Gestaltens. Dabei geht sie von einem vertrauten, mit Inhalten aufgeladenen Bild aus, gibt sich durch Zuordnung eines Philosophen respektive eines Begriffs einen Fokus und lässt das Bild durch systemische Anwendungen darauf reagieren. Ein breiten Raum einnehmendes Beispiel sind Bilder nackter Frauen aus vorfeministischer Zeit, die sie quasi bildmethodisch «emanzipiert» indem sie sie immer am Computer verzerrt, verfremdet, überzeichnet, längt, fragmentiert, entfärbt oder neu koloriert. Mit Sigmund Freud und Nietzsche als Denkväter und Wörtern wie «Idealisierung» oder «fundamental» als Impulsgeber.
Das Ziel von «sex and technology» so der Untertitel ist dabei kein moralisierendes, sondern eine Intuition, Wissen und Systeme verknüpfender Weg, um zu neuen, digitalen Bildwelten zu gelangen. Dies aus der Überzeugung, dass wir Menschen an einem Punkt angelangt sind, da uns künstliche Bildwelten grundlegend zu verändern beginnen.
Konkret erscheinen die Bilder als Animationsfilme zum einen, als Computerprints, die mittels Magnetstreifen an Gitterwänden angebracht sind, zum andern, mal klein, mal grösser, mal vorne, mal hinten. Die Philosophen ihrerseits sind in hinterleuchteten Interieurs untergebracht, die collageähnlich Zeichen, Begriffe und Figuren binden.
Der Projekttitel «HeadNurse» verbindet Kopf respektive Gehirn und Pflege. Die Künstlerin sagt nicht ohne Ironie, das sei ihre Antwort auf Nietzsches Satz: «Die Philosophen sind die Ärzte der Gesellschaft.» Was sie konkret meint, ist indes die Vorstellung, dass ihr gleichzeitig intuitiver wie systematischer Umgang mit Transformation und Wandel dem ununterbrochenen Prozess des Denkens entspreche. Ist «Head Nurse» vor allem ein breit angelegtes Laborexperiment, verdichtet Kerckhoven ihre Arbeitsweise in zwei weiteren, leichter fassbaren Rauminstallationen. Zum einen in der Videoarbeit «Deeper», die denselben Film einmal statisch, einmal den Wänden entlang kreisend zeigt und damit das Publikum einfängt. Zu sehen ist eine in verschiedenen Räumen tanzende, zuweilen auch nur mit den Händen die Luft formende Figur, die analog «Head Nurses» einem vorgegebenen Text entlang improvisiert.
Zum andern in der interaktiven Projektion «Rorty, The Head Room», die als vorläufige «Apotheose» betrachtet werden kann. In der erneut interieurhaften Szenerie schichten sich Bild- und Denkebenen, die von den Anwesenden via Sensoren in ständiger Veränderung gehalten werden. Organisches, Konstruktives, Zeichenhaftes sind in wechselnden Färbungen in eine Art Galaxie digitalen Alltags gebunden. Der Eindruck einer futuristischen Bildwelt ist nirgendwo sonst so stark wie hier.
Anne-Mie Van Kerckhoven sei zu unrecht zu wenig bekannt, sagt Philippe Pirotte. Populär wird ihr Werk kaum werden, zu komplex ist es angelegt, doch als eigenständige, experimentell angelegte Grundlagenforschung für die Zukunft digitaler Bildrealitäten könnte es wegweisend werden für andere.
Katalogbuch.