Wenn die Augen Bilder malen

Katalogtext Helga Schuhr, Neuenburg, Juni 2006

„Jedes neue Kapitel in meinem Schaffen entsteht aus einem inneren Bedürfnis“, sagt Helga Schuhr. Oft könne sie es nicht benennen, es wachse aus der Zeit.

2001 kauft sich die Künstlerin eine Digitalkamera. Vieles, das sie früher sah und bedachte, aber nicht fasste, wird nun zum fotografischen Bild. Und findet in kopierter, fragmentierter, repetierter Form in die Malerei. Ein neues Kapitel.

Als junge Frau lebt Helga Schuhr ein Jahr in England. In der Tate Gallery entdeckt sie Bilder von Robert Rauschenberg; Pop-Collagen, die Dinge in Form von Abbildungen in unerwarteter Weise verweben und zur Malerei verbinden. „Ich verstand das nicht, aber es faszinierte mich ungemein.“

In ihrem eigenen malerischen Schaffen geht Helga Schuhr zunächst andere Wege. In den gestisch-lyrischen Expressionismus der ersten Jahre drängt sich die Figur, der weibliche Körper. Die Dynamik, mit welcher die Frauen der Generation von Helga Schuhr die veränderten Zeichen der Zeit aufgreifen, spiegelt sich darin. Dann verschwindet die Figur wieder, doch es bleibt im Gestischen das Körperliche; grosszügig und grossformatig. Bis New York die Spiegelung der indviduellen Befindlichkeit mit der Stadt, der Architektur, den grossen Formen in Bezug setzt: Das Ich und die Weltstadt – eine neue Dimension.

Mitte der 1990er-Jahre ist es Zeit innezuhalten, Bewegung zu verdichten. Die Künstlerin ist jetzt fünfzig Jahre alt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Malerei Mark Rothkos und Barnett Newmans beruhigt sich ihr Schaffen. Flächen, Farben und Proportionen werden zum Inhalt ihrer Bilder.

Aber da ist die Zeit, das Zeitgeschehen, die Weltgeschichte. Sie bestimmt das Leben und drängt – nun nicht mehr ichbezogen, sondern auf übergeordneter Ebene – zurück ins Bild. Wie Abstraktion, Form und den Puls des Geschehens verbinden? Sie beginnt die Leinwand mit Tageszeitungen zu „marouflieren“, das heisst mittels eines Lösemittels untrennbar zu verbinden. Sie ist nicht die erste, die auf diese Idee kommt, abgewandelt findet man sie schon bei Picasso, bei Corbusier, später bei Rauschenberg u.v.a.m. Aber Helga Schuhr macht daraus ein Konzept; sie legt ihrer Malerei das Weltgeschehen zugrunde. Dabei geht es nicht um das Ereignis – die Zeitungsschicht wird im Laufe des Bildprozesses weitgehend übermalt – sondern die immanente Symbolik.

Zugleich geben die Collage-Elemente der Bildfläche eine konstruktive Struktur, die hier und dort den Eindruck vermittelt, etwas Geschlossenes liege aufgefaltet vor einem. Dies wird unterstützt durch die horizontalen und vertikalen Bildteilungen, welche die Malerin – in Anlehnung ans Layout von Zeitungen – im Prozess der Bildentstehung betont.

In Zeitungen wird Einzelnes herangezoomt und in Texten verdeutlicht, oft in Kombination mit Abbildungen. Das macht Helga Schuhr in ihren neuen Arbeiten auch, aber anders. Sie holt aus ihren Fotoarchiv Motive, die von etwas Kleinem auf etwas Grosses verweisen, Fotos, die über sich selbst hinausweisen; einen kleinen, zerdrückten Pappbecher, der in einem Gitter steckt zum Beispiel oder den durch seine Frisur ornamental wirkenden Kopf einer jungen, dunkelhäutigen Amerikanerin oder die Gestalt der Künstlerin selbst wie sie winterlich vermummt dem See entlang schreitet, in Begleitung ihres eigenen Schattens.

Mittels Photoshop mehr oder weniger verändert, werden die Fotos als Ganzes oder in Teilen ausgedruckt und als Elemente – einzeln, gruppiert oder als rhythmische Bänder – frei ins Bild integriert; so sehr, dass sich die Zeitungsübermalungen und die Fotografien bezüglich ihrer materiellen Beschaffenheit kaum mehr unterscheiden. Inhaltlich stehen jedoch die ursprünglich fotografierten Motive im Zentrum, während die malerische Umgebung weitgehend dazu dient, diese zu tragen.

Bestehende Bilder in Kunstwerke zu integrieren, ist eine weit verbreitete Tendenz in der aktuellen Kunst. Bei Helga Schuhr mischt sich das Zeitempfinden mit der Erinnerung an die frühe Prägung durch Robert Rauschenberg.

Eine weitere Etappe künden die auf Polysterol gemalten, vielfach schwarz-weissen Objektmalereien an. An ihrer bildlichen Basis stehen wissenschaftliche Fotografien der Körperzellen der Künstlerin. Eine Art mikrokosmischer Selbstbildnisse, die sich als Module tausendfach in Bildkörper übersetzen lassen. Später kommen andere Körperzeichen hinzu. Indem die Künstlerin die Kunststoffplatten dreht, stellt, zur Spirale fügt, bringt sie interessanterweise das Körperliche und das Gestische aus Bildern der 1980er-Jahre in gänzlich gewandelter Form neu ein.