Chantal Michel in der Abbatiale de Bellelay

Zwischen Performance, Fotografie und Malerei

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez, Bieler Tagblatt  17. Juli 2007

„Les ininvoquables“ – die Unwiderruflichen – nennt die Thuner Künstlerin Chantal Michel (39) die performativen Fotografien, die sie in der Abbatiale de Bellelay zur raumgreifenden Inszenierung gefügt hat.

Dass sich Kunstschaffende bestehende Bilder der Kunstgeschichte aneignen und sie in eigene Ausdrucksformen umwandeln, ist nicht neu. Aber Chantal Michels über mehrere Stationen führende Version ist deswegen keineswegs „déjà-vu“. Die Thuner Künstlerin ist international bekannt dafür, dass sie sich in verschiedenen Rollen in Räume und Situationen einpasst und fotografiert – sei es mit einem Selbstauslöser oder mit Hilfe eines Assistenten.

In der Serie der Ininvoquables (der Unwiderruflichen), die zur Zeit die Nischen und Wände der Abbatiale de Bellelay bevölkern, sind es nun nicht mehr Räume – keine Hotelzimmer, keine Waschküchen, keine fremden Wohnungen – in die sich Chantal Michel als Fremdkörper einfügt, sondern Bilder aus der Kunstgeschichte respektive Pastell-Zeichnungen, die ein gewisser Hermann Gerber (1902 – 1979) von berühmten Bildern gemacht hat. Das heisst konkret, die Künstlerin lebt die Bilder (meist Porträts) für einen Moment, hält das „tableau vivant“ mit der Kamera fest und zieht sich wieder daraus zurück.

Vor ein paar Jahren zeigte das Kunstmuseum Thun Hermann Gerbers abgeschirmt von der Öffentlichkeit entstandene Pastelle nach Klee, Van Gogh, Rembrandt, Hodler usw. erstmals; zusammen mit Werken jüngerer Künstler, die mit dem Mittel der Aneignung arbeiten. Da entdeckte sie Chantal Michel und entwickelte daraus die aktuelle Serie, die in Bellelay nicht einfach gezeigt wird, sondern in den Kirchenraum, mehr noch, in die Geschichte der Kirche integriert ist; mitsamt barocker Musik. So findet man im eingangsnahen Teil des Kirchenschiffes eher „wilde“ Gestalten (das Volk), im Chor geheimnisvolle, subtile Figuren und in der Apsis den Tod, die Engel und die Muttergottes mit dem Jesuskind (einem Mädchen notabene!).

Kehrt man dann zurück, entdeckt man neben dem Eingang den Evangelisten Matthias mit seinem Engel (beide in der Gestalt Chantal Michels), der alles notiert, was da geschieht und daneben – wohl damit das Absurde des Ganzen bewusst bleibt – ein kleines, köstliches Video, in dem ein per Fernbedienung beweglicher TV-Sessel ein Skelett abschüttelt und zerstört.

Es gibt nur wenige der zentralen Fotografien, die auf den ersten Blick auf das Kunst-Original zurückgeführt werden können, zum Beispiel das Bildnis Van Goghs mit abgeschnittenem Ohr. Das ist gut so, denn es geht Chantal Michel glücklicherweise nicht um Illustration, allerdings auch nicht um eine allzu ernsthafte Reinterpretation, sondern vielmehr um Inspiration, um Wandel, um Lust am Spiel, am Theater, an der Performance; daher wohl auch der Titel „Die Unwiderruflichen“. Michel geht ja auch nicht vom Original aus, sondern von Gerber, der sich in seine „Kopien“ deutlich einbrachte und das Medium (von der Malerei zur Zeichnung) bereits wandelte, was Michel noch einmal tut mit einem Mehr an Freiheit. So malt sie sich zum Beispiel ein Porträt von Klee im Kleid Gerbers ins Gesicht oder sich macht sich mit einer wilden Perücke und einem Schaffell zu einer mittelalterlichen Gestalt. Eigenartigerweise hat Gerber die Originalbilder nicht immer benannt, sodass die Gestalten wohl sichtbar aus der Kunst kommen, aber vielfach nicht so genau definiert sind. Und das nutzt Chantal Michel, um ihrerseits neue Gestalten aus ihren Vorgängerinnen herauszufiltern, seien sie vielfarbig, exotisch, verführerisch oder mit Gerbers Strich auf ihrem Gesicht fast schon fotografierte Malerei; wäre da nicht in jedem der Bilder der markante Blick, die immer selben grossen blaugrauen Augen, welche die Künstlerin, die Performerin sicht- und fühlbar machen.

Die meisten Aufnahmen sind 1:1 – das heisst nicht am PC bearbeitet. Einige hingegen sind Mehrfigurenstücke – der Reigen Hodlers zum Beispiel – da kommt Montage ins Spiel, denn jede der Figuren ist sie selbst. Es ist ein spannendes Projekt, das Chantal Michel realisiert hat, auch wenn man sich auf der konzeptuellen Ebene noch etwas mehr an Präzision, Klarheit und innerem Zusammenhalt gewünscht hätte. Nichtsdestotrotz ist die Ausstellung ein markantes Kapitel im umfangreichen Buch der Kunst in der Abbatiale de Bellelay, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

Bilder: zvg