Kunstrückblick 06 – Bieler Jahrbuch 2006

Keine grossen Beben in der Szene

www.annelisezwez.ch      Annelise Zwez in Bieler Jahrbuch 2006, erschienen im Juni 2007

Das Bieler Kunstjahr 2006 warf keine grossen Wellen. Es gab weder Skandale à la Thomas Hirschhorn – nicht einmal Leserbriefe in der Lokalpresse –  noch Anlässe, die wegen ihrer überdurchschnittlichen Qualität überregional Furore gemacht hätten. Vielleicht ist das ein Stück weit typisch, denn Biels Kulturszene funktioniert, nicht nur im Bereich Kunst, vielfach anders, untergründiger.

Ereignis des Jahres – das Centre PasquArt und die Fototage mal ausgeklammert – war diesbezüglich die Gründung des „Lokal.int“ durch Chri Frautschi zusammen mit Enrique Muñoz – ein winziger Off-space an der Untergasse 39, wo Bieler oder mit Biel befreundete Künstler und Künstlerinnen Low-Budget-Installationen jenseits von Kunst &Kommerz zeigen, aber auch andere „Verrückte“ ihre Bubenträume – wieder mal so richtig „car race“ spielen! (PR-Büro Moxi) – verwirklichen. Im ersten Jahr waren unter anderem Gregor Wyder, Lorenzo le kou Meyr, Monsignore Dies  und Monika Stalder mit von der Partie.   Charakteristisch sind die Öffnungszeiten: Donnerstag und Freitagabend von 19 bis 23.30 Uhr. Zusammen ein Bier trinken ist mindestens so wichtig wie die Kunst-Produktion. Da kann es dann schon sein, dass der Ex-Bieler Daniel Zimmermann (jetzt in  Basel lebend) plötzlich wieder „zuhause“ auftaucht…und Gregor Wyder froh ist, nur halb nach Zürich gezogen zu sein…

Das „Lokal.int“ ist auch Sitz der ebenfalls von Chri Frautschi gegründeten „Edition. Fästing plockare“ – im Abonnementssystem (Fr. 120.- pro Jahr) vertriebene Kleinst-Publikationen, die ebenso ein Booklet wie eine CD oder ein faltbares Spielbrett sein können. Erstaunlicherweise ist es Chri Frautschi auch im zweiten Jahr gelungen, die Abonnentenzahl bei über 100 (der kritischen Grenze) zu halten.

Das Konzept des Lokal.int ist in gewissem Sinn bezeichnend für die Bieler Kunstszene als Ganzes. Sie ist lebendig, sucht die Anregung aber lieber zuhause als in der weiten Welt. Kritischer formuliert: Sie genügt sich selbst. Oder noch radikaler: Sie realisiert nicht, dass die Post anderswo abgeht. Aber vielleicht ist das einem Teil der Bieler Kunstszene auch egal; mit Ausnahmen selbstverständlich.

Das Phänomen zeigt sich auch am Erfolg des von der visarte Biel veranstalteten „Joli mois de mai“, der 2006 zum fünften Mal über die Bühne der „Alten Krone“ ging. Da fanden heuer in der Zeit vom 10. Mai bis zum 11. Juni nicht weniger als 25 Ein-Abend-Ausstellungen von Bieler Künstlerinnen und Künstlern statt, u.a. von Eve Monnier, Jean-Denis Zäch, Pavel Schmidt – schön ist der belesene Welt-Künstler wieder vermehrt in Biel aktiv – Monika Loeffel, Michael Medici, Taziana de Silvestro und Robert Schüll. Letzterer wurde 2006 überdies zum neuen Präsidenten der Künstlergesellschaft visarte, Sektion Biel, gewählt. Er ist es auch, der seit Jahren jede Ausstellung (oder Performance) fotografiert und dokumentiert, was längerfristig ein kostbares Bieler Kunstszenebild ergibt.

Es ist jedoch trotz dieser lebendigen und wertvollen Struktur, die vielfach weit über die bildende Kunst hinweg funktioniert,  nicht wegzudiskutieren, dass all diese Szenen-Veranstaltungen nur einen beschränkten Kreis von Interessierten anziehen. Was indes nicht heisst, dass sie nicht trotzdem wichtig sind und über die effektiv Anwesenden und Mitstreitenden wahrgenommen werden. Zum Beispiel über das Internet: Sowohl der Joli mois de mai wie das Lokal.int haben eigene Web-Sites. 

Lorenzo le kou Meyr setzte dem „Heimlichen“ der Bieler Kunstszene Ende Jahr noch eins drauf: Als Lekou’rator gründete er das www.mouseum.ch, das zu 67.4% virtuelle Bieler Kleinst-Kunsthaus, das jeden Samstag – das sind dann die 32.6 anderen Prozente – jeweils am Samstag von 11 bis  13 Uhr im Schaufenster seines Ateliers an der Quellgasse 8 besichtigt werden kann. Erst-„Aussteller“ ist  – wen wundert es –  Chri Frautschi  mit einem Haus für „Heinzelmännchen“.

Das alles heisst nicht, dass sich keine Bieler Kunstschaffenden überregional hätten von sich reden machen. Zum Beispiel über Publikationen: 2006 erschien in der renommierten Edition Fink ein zweibändiges Werkverzeichnis des Künstlerteams Chiarenza&Hauser&Co unter dem Titel „we save what you give“. Obwohl das seit 1985 in Biel tätig gewesene Duo 2003 nach Zürich zog, hat das Buch viel mit Biel zu tun; denn so manche, vor allem frühe Aktionen fanden in Biel statt und sind als solche bebildert im Fotoband. Auch das sich seit längerem im Medium des Fotogramms arbeitende Künstlerpaar Daniel und Françoise Cartier trat 2006 mit einer schön gestalteten Publikation (Niggli-Verlag St. Gallen) an die Öffentlichkeit. Und last but not least erschien ein in englisch und chinesisch publizierter Katalog zum Schaffen von Mingjun Luo anlässlich der ersten Ausstellung der Bieler Künstlerin in Shanghai (zusammen mit dem Bieler Plastiker René Zäch).


Grössere, überregionale Ausstellungen von Bieler Kunstschaffenden gab es unseres Wissens ansonsten nur wenige. Mit Nachdruck erwähnt sei die ausserordentliche, raumfüllende Zeichnungs-Installation von Romana del Negro im Museum in Moutier. Und dann natürlich die grosse Retrospektive, die das Kunstmuseum Solothurn dem 2000 verstorbenen Rolf Spinnler widmete, der ab 1963 in Biel wohnte, hier sein malerisches und zeichnerisches Hauptwerk schuf  und während Jahrzehnten eine ebenso zentrale wie schwierige Figur im Bieler Kunstleben war. Im Katalog sind Leben und Werk des Künstlers aufgearbeitet (Text: Annelise Zwez).

Keine grosse Ernte gab es für die Bieler 2006 bei den kantonalen und nationalen Stipendienvergabungen; immerhin erhielt der engagierte Bieler Foto-Künstler Andreas Tschersich das Reisestipendium des Kantons Bern für das Projekt „Industrielandschaften Europas“. 


Einen grossen Auftritt hatte Ende Jahr hingegen Ruedi Schwyn (56). Auf Einladung von Dolores Denaro realisierte  der anerkannte Bieler Künstler eine installative Ausstellung im Museum  Centre PasquArt unter dem Titel „Walk in a human landscape“, in welcher er sich mit ökologischen, gesellschaftlichen, technischen und politischen Fragen unter dem Aspekt des Körpers und seiner inneren und äusseren Biographie auseinandersetzte.

Das Bieler Kunstjahr – das sind nicht nur die Aktivitäten der Bieler Kunstschaffenden. Das Bieler Kunstjahr besteht auch in allem, was Veranstalter an schweizerischer oder – seltener – internationaler Kunst nach Biel bringen, sei es ins Museum Centre PasquArt, ins Photoforum PasquArt, in den Espace libre, vereinzelt auch ins Museum Neuhaus, in die Galerien Quellgasse und Steiner, die Gewölbegalerie oder – neu – in den auf Graffiti spezialisierten ArtCorner an der Zentralstrasse. 

Von den Ausstellungen im Museum Centre PasquArt seien, durchaus unter qualitativen Kritierien, die gross und grosszügig konzipierten Installationen von Stefan Banz „Laugh, I nearly died“, die internationale Themenausstellung „Branding“, die sich vielseitig mit einem zwischen Wirtschaft und Gesellschaft pendelnden Phänomen auseinandersetzte, und „Simply beautiful“, eine von Laurencina Farrant-Lee konzipierte Ausstellung zum Thema Kunst und Natur in der Kunst Südkoreas erwähnt. Letztere kam als Kollaboration mit der erneut gross angelegten Freilichtausstellung „Art Canal“ entlang der Zihl zwischen Bieler- und Neuenburgersee zustande.

Auch im Photoforum gaben namhafte Künstler Einblick in ihr Werk; erwähnt sei zum Beispiel die Retrospektive Hugo Jaeggi. Aufsehen erregte das meist nicht sehr werbewirksam agierende Photoforum hingegen mit der Ausstellung „UFO“, welche das fotografische Medium im Kontext ernsthafter und/oder fiktiv-künstlerischer Ufo-Forschung zeigte.

Künstlerisch Überzeugendes konnte man einmal mehr im Espace libre entdecken, zum Beispiel die Installation „Fable“ von Ana Roldan (Bern) oder die Installation „Topologie d’histoires improbables“ von Véronique Zussau (Bern). Ein eher „verrücktes“ ­– aber gerade darum spannendes – Crossover zwischen Aktion, Installation und Musik inszenierte im Herbst  der Bieler Musiker/Künstler Monsignore Dies als er all sein Hab und Gut in den „Espace“ transportierte. Schade, dass sich die Leitung des Espace  zu passiv in Sachen Werbung/Branding verhält und  die stets ortsbezogenen Installationen darum oft nicht ihrer Qualität entsprechend wahrgenommen werden.

Von den Galerien zeigte die seit Herbst 2003 bestehende Galerie Quellgasse (gq3) das zeitgenössischste Kunst-Programm, u.a.  mit dem Kairo-Bieler Romano della Chiesa, dem Basler Hans-Rudolf Fitze, dem enfant terrible Roland Adatte, der schweizweit auf Echo stossenden Videokünstlerin Luzia Hürzeler. Obschon die Galerie Quellgasse, bezogen auf Biels Bevölkerung, noch keine Verwurzelung hat, die vergleichbar wäre mit der seit 35 Jahren hier tätigen Galerie Silvia Steiner, so ist sie doch Augenmerk, nicht zuletzt für die Bieler Schule für Gestaltung, wurde doch der Bieler Galerist  und Solothurner Kulturpolitiker Alfred Maurer im Spätsommer 2006 zum Nachfolger von Urs Dickerhof als Direktor der Schule gewählt.

Öffnet sich hier Zukunft, schloss die Galerie Lotti Michel, deren Feuer seit Jahren nur noch flackerte, ihre Geschichte mit einer retrospektiven Ausstellung von Heinz Peter Kohler definitiv ab, nach mehr als 30 Jahren. Ihre Galerie gehörte insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren zu den wichtigen Kunstorten in Biel. Noch nicht ans Aufhören denkt – glücklicherweise – Silvia Steiner. Sie zeigte auch 2006 fünf qualitativ sehr gute, ausschliesslich auf Malerei ausgerichtete Ausstellungen an der Grenze zwischen Tradition und zeitgenössischem Ausdruck mit Künstlern und Künstlerinnen wie Anton Bruhin (Zürich), Ise Schwartz (Biel), Beatrix Sitter-Liver(Bern), Christina Niederberger (London), Samuel Buri (Basel), Hans Schärer (Luzern), Bendicht Fivian (Winterthur), Urs Stoos (Bern) u.a.m.

Das am stärksten in die Stadt ausstrahlende Kunst-Ereignis waren auch 2006 die Bieler Fototage. Was Direktorin Barbara Zürcher unter dem Titel „Die Rückkehr der Physiognomie“ an thematischer Vielfalt auszubreiten vermochte, überzeugte einmal mehr. Umso grösser war das Bedauern, als Zürcher im November ihren Rücktritt als Leiterin der Fototage bekannt gab und damit dem gerne zitierten Ruf der Stadt als „Fotostadt“ einen Dämpfer gab. Es zeigt sich, wie so oft, dass personell völlig unterdotierte Unternehmungen, die  primär auf dem Einsatz von überdurchschnittlich Engagierten bauen, auf die Dauer nicht sicher sind.

Es gäbe noch manches zu berichten, doch zu guter Letzt sei der Blick in die Region gerichtet. Eine Notiz Wert ist da insbesondere die Neu-Eröffnung der Galerie 25 von Regina Larsson in Siselen, die sich nach längerer Umbauzeit in der ehemaligen Dorf-Käserei neue Räume einrichtete und mit Künstlern aus den Regionen Bern, Biel und Basel in eine erweiterte Zukunft startete. Aus gesundheitlichen Gründen ein Stück weit aus der aktiven Vermittlung zurückgezogen hat sich hingegen Galerist René Steiner in Erlach; ein Verlust. Neu ins Geschäft wagte sich die Snake-Galerie in Nidau (Schlossgasse 10), die in Zukunft ein wichtiger Vermittlungsort für Bieler Kunst sein will. Eine Überraschung gab es 2006 auch in Ipsach. Im Rahmen einer Engel-Woche der Kirchgemeinden, wurde eine Ausstellung mit  expressiven Engel-Bildern des bekannten Engelberger Paters und Malers Eugen Bollin veranstaltet. Bestandteil der Kunst-Events in der Region war auch die jährliche Kunst Textil-Ausstellung im Aarbergerhus in Ligerz, die 2006 unter dem Titel Raum – Skulptur – Transparenz die Pionierrolle illustrierte, welche das Werk von Elsi Giauque (1900 – 1989) bezüglich des Ausgreifens textiler Kunst in den Raum einnimmt.