Vielleicht ist sein Leben eine Skulptur

Ein unvollständiger Bericht zu Leben und Werk von Marcel Stüssi, zusammengetragen  von Annelise Zwez

Erschienen in der Monographie Marcel Stüssi im Stämpfli-Verlag 2008

Es ist paradox: Da ist das Leben eines Künstlers immer wieder von Misserfolgen geprägt. Doch weil das Schaffen wenig Resonanz hat, bleibt es weitgehend beisammen.  Und macht es so erst möglich, dass wesentliche Teile des vielfältigen Werkes nach dem Tod in öffentliche Schweizer Sammlungen gelangen.

Das klingt  nach Van Gogh. Und ein wenig Rührung ist angebracht, aber gleichzeitig ist vor Vergleichen zu warnen, denn  nüchtern betrachtet ist die Sache wesentlich anders. Marcel Stüssi notierte einmal, er wisse nicht so genau wie weit sein Leben von Anpassungs-Schwierigkeiten respektive Anpassung-Widerstand geprägt sei. Beides natürlich, und in der Potenzierung war es die Krux, die ihm das Leben so schwer machte, zugleich,  gerade deswegen, sein vielfältiges Werk aber auch so spannend.

Er rannte gegen alles, gegen Traditionen und Klisches, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Dabei hatte er stets die Welt im Visier. Die Brille, durch die er schaute, war aber zugleich seine eigene, persönliche, biographische. Das eine im andern.

Die Kunst war für Marcel Stüssi eine Form von Sprache, ein Medium, in dem er sich äussern konnte, ohne dabei direkt mit anderen Menschen kommunizieren zu müssen. Er machte nie Kunst um der Kunst willen, er wollte, vor allem im späteren Werk, mitteilen, seine Meinung, seine Erregung, seine Wut und verkappt auch seine Sehnsüchte zum Ausdruck bringen. Er war kein Theoretiker, er schaffte, indem er handelte, indem er Papiere schnitt und zu Worten fügte, indem er Objekte zweckentfremdete,  Fotografie auf Geste reduzierte, Abbilder durchlöcherte, mit der Kamera Statisches aus den Angeln hob, Bilder  zerstückelte und neu zusammenfügte, indem er malte, zeichnete, schrieb, kopierte, umsetzte, neu formulierte….. und das Chaos schliesslich ordnete;  mit Signatur, mit Datum, mit Titel, mit Listen, Verzeichnissen, Übersichten. In Schubladen, in Schachteln, in Ordnern war bei seinem Tod (fast) alles geordnet, bereit (und wohl darauf angelegt) nach seinem Leben ein zweites Leben zu beginnen, ohne ihn und doch mit ihm und durch ihn.

Marcel Stüssi wurde am 9. Juni 1943 als zweites Kind von  Rudolf und Frieda Stüssi –Amsler in Sargans geboren. Wie er in einer trotz aller Tragik liebevollen Aufzeichnung seiner Jugend schreibt, ist seine früheste Erinnerung das Glockengeläut zum Ende des 2. Weltkrieges, anno 1945. Gemeint ist wahrscheinlich die Erinnerung an die Erregung der Menschen in Verbindung mit dem Geläute. Bereits 1947 geht die „glückliche Kinderzeit“  mit den Eltern, der „Nane“, dem Blumengarten….indes jäh zu Ende. Die Mutter erkrankt psychisch und zieht sich in eine innere Welt zurück. Die drei Kinder werden In Pflegefamilien untergebracht. 1948 nimmt sich der Vater das Leben, „wohl wegen des Zerfalls der Familie“, wie Marcel Stüssi im genannten Bericht festhält. Er beschreibt sein Leben  in Heimen in Glarus und Ziegelbrücke (bis 1955), später bei Verwandten in Olten, nicht negativ, zuweilen sogar fast fröhlich, in Bezug auf die eigenen Ecken und Kanten auch ein wenig beschönigend. Dennoch ist zwischen den Zeilen herauszuspüren, dass er seinen Eltern nie verziehen hat, dass sie ihn im Stich gelassen haben und dass ihn dies bis in seine Träume verfolgt. Der 1979 geschriebene ausführliche Jugendbericht, der spannenderweise auch den Einstieg in die Kunst umfasst, widmet er seiner 1963 verstorbenen Mutter, die er nie mehr besucht und deren Briefe er nie beantwortet hat. Den Vater erwähnt er nicht. Den 37 Schreibmaschinenseiten stellt er unter anderem ein Zitat  von Marcel Duchamp voran: „Den Toten sollte es nicht gestattet werden, so viel stärker als die Lebenden zu sein.“

Es zeigt sich in dem zwar keineswegs literarischen, aber doch sehr flüssig geschriebenen Text, dass Marcel Stüssi, ganz im Gegensatz zu später, als Jugendlicher zahlreiche Freunde, auch mal eine Freundin, hatte und seine Israelreise nach Abschluss der Lehre als Bauzeichner  (1964) wie selbstverständlich mit Freund  Markus Bono im Deux-Cheveaux unternahm; wenigstens bis zum Selbstunfall in Skopje,  dann waren öffentliche Verkehrsmittel angesagt. Pikantes Detail: Die Reise war notwendig, um sich der Unteroffiziersschule mit der Begründung „Auslandaufenthalt“ entziehen zu können. Ein Arbeitseinsatz in einem Kibbuz war bis zum Sechstage-Krieg von 1967 in der Vorstellung vieler  Schweizer Jugendlicher eine Art „Pflicht“ im Dienste eines Ideals.  Marcel Stüssi reichten indes drei Wochen für die ernüchternde Erkenntnis, dass die Jungen aus Europa nichts als billige Arbeitskräfte  waren.  Eindrücklicher waren für ihn die vorausgehenden Monate in Tel Aviv, wo er und Markus Bono kurzzeitig als Bauzeichner tätig waren.

Bereits gegen Ende der Lehrzeit im Architektur-Büro Suter + Richner in Gränichen beginnt Marcel Stüssi intensiv zu fotografieren. Das Metier war ihm aus den Bezirksschul-Jahren bei Onkel Fridolin Stüssi und Tante Grete in Olten bestens vertraut, hatte er doch oft in deren Fotogeschäft mitzuhelfen.  Wie die erhaltenen Aufnahmen zeigen, orientiert er sich in dieser Zeit deutlich an der Schweizer Foto-Tradition, die in seinem Fall zugleich ein Stück Familiengeschichte ist, geht doch das professionelle Fotografieren der Stüssis bis in die 1880er-Jahre zurück. Mit einem Dossier  eigener Vergrösserungen bewirbt  sich Marcel Stüssi 1964 oder 1965 um einen Studienplatz in der Fotofachklasse der Kunstgewerbeschule Zürich; ohne Erfolg.  In seiner Vorstellung ging es dabei wohl um Reise- und Reportage-fotografie, denn unterwegs sein, an etwas Grösserem, etwas Umspannenderem teil haben,  sei es real oder fiktiv, wird für Marcel Stüssi  je länger je wichtiger, ja gar zu einem Überlebensfaktor.  Aber so weit sind wir noch nicht.

Marcel Stüssi lebt nun in Aarau, arbeitet im Architekturbüro Riemli und sprüht an Sylvester mit Freunden auch schon mal Champagner über die Platanen im Graben; eine glückliche Zeit, wie er schreibt. Gleichzeitig treibt ihn aber etwas an –  seinen Freund Ambrosius vor Augen, der  an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin Architektur studiert, bewirbt sich auch Marcel Stüssi 1965 nach einem Augenschein in der Exklave des Westens um einen Studienplatz; indes ohne Erfolg.  Wie schon während der Lehrzeit, und eigentlich ein Leben lang, ist Marcel Stüssi per Autostop unterwegs,  etwas das unter den zukunftsgläubigen Jugendlichen der 1960er-Jahre keineswegs ausserordentlich ist. So bricht er auch 1966 per Anhalter auf nach Venedig, um daselbst unter anderem die Biennale zu besuchen. Es ist die erste explizite Reise in Sachen Kunst.

In Aarau verkehrte Stüssi seit der Rückkehr von Israel vermehrt in sogenannten „In“-Lokalen (zum Beispiel der „Bodega“ oder  der legendären „Brötli-Bar“ im „Affenkasten“) und kam dort  in Kontakt mit jungen Aarauer Künstlern. Namentlich erwähnt er in seiner Biographie den Maler Heiner Kielholz und den Bildhauer Heiner Richner. Es war just die Zeit als es  im konservativen Aarau zu gären begann, als sich unter den Etablierten endlich die Abstraktion Bahn brach und die Jungen sich aufmachten, sich aus der nizonschen „Enge“ zu befreien.  Dieses Klima, dieser neue Weg in die Zukunft mittels Kunst, beflügelte auch Marcel Stüssi. Sein vom bisherigen Lebenslauf her eher unerwartete Einstieg in die freie Kunst ist vor diesem Hintergrund zu sehen.

Den Beginn seines künstlerischen Werkes datiert Marcel Stüssi auf 1967.  Damals entsteht ein erstaunlicher und  Späteres vorwegnehmender Zyklus von „Collagefotokopien“ im Format 21 x 30 cm. Es ist ein Phänomen im Werk von Marcel Stüssi, dass Zyklen immer mitbestimmt sind von identischen Formaten, was er wohl von der Foto-Technik her mitnimmt. Bei diesen 23 Collagefotokopien handelt es sich um einen Verschnitt von Illustriertenbildern, die er montiert, dann mit Tusche formal bis an die Grenzen der Lesbarkeit reduziert, somit zum „Bild“ macht und schliesslich fotokopiert, um in der Reduktion auf schwarz-weiss eine bildnerische Einheit zu erreichen. Sie wirken nicht wie Foto-Negative, aber das Vertrautsein des Fotografen mit Bild-Umkehrungen ist dennoch spürbar.

Ebenso wichtig ist die Motivwelt – die einzelnen Blätter  tragen Titel. Diese lauten etwa „Stalin und die Mode“ oder „Die  Maobibel“ oder „Der Israelkrieg“ oder „Black Power“. Das dokumentiert, dass Stüssi bereits  vor der von den 1968er-Jahren ausgelösten Welle politisch denkt. Es lässt sich von diesem Frühwerk, das in zwei Fassungen, einer positiven (schwarz-weissen) und einer negativen (weiss-schwarzen),  vorliegt,  problemlos eine direkte Linie zum viel späteren, zeichnerischen „continuo-werk“ von 1988 bis 1990 ziehen.

Pionierhaft ist 1967 auch der Einsatz von Fotokopie als künstlerisches Medium. Stüssi arbeitet in dieser Zeit bei der Planungsfirma „metron“ in Aarau. Eingedenk derer Offenheit gegenüber der  bildenden Kunst, ist es denkbar (aber nicht belegt), dass Stüssi für sein Vorhaben den firmeneigenen Fotokopierer benutzen konnte.

Wenn auch dieser Zyklus Einzelwerk blieb, so hat er ihn doch nie vergessen. In seiner Zeit als Redaktor der Basler „Filmfront“ in den 1980er-Jahren publizierte er ihn daselbst in eigener Regie. In ihrer Zeit findet die Arbeit kein Echo. Er gibt sie 1967 an die Weihnachtsausstellung im Aargauer Kunsthaus ein, sie wird jedoch von der Jury nicht angenommen.

1967/68 erbt Marcel Stüssi einen für ihn namhaften Betrag aus dem Verkauf des Elternhauses in Sargans. Das ist für ihn der Startschuss, um in die Kunst einzusteigen. Er mietet eine etwas grössere Wohnung am Bachgraben und beginnt mit dem, was er später die „Aarauer Arbeiten“ nennt.  Von seinem Beruf her, ist Stüssi der Architektur nahe und überdies gewohnt exakt respektive mathematisch zu arbeiten. Er kauft sich rote, grüne und zweierlei blaue Papiere, die er als Balken, als Rechtecke, als Winkel-, als Treppen- als Pyramidenformen,  Stoss an Stoss zu konstruktiv-geometrischen Kompositionen fügt. Mass und Zahl bestimmen die Variationen und Erweiterungen.  Stüssi steigt damit in den Mainstream der Kunst in der Schweiz in den 1960er-Jahren ein, der massgeblich von der zweiten Generation der Zürcher Konkreten bestimmt ist.

Im Sommer fährt er an die Documenta in Kassel, die 1968 im Wesentlichen der Pop Art gewidmet ist und Stüssi nachhaltig beeinflusst. Zu erwähnen sind insbesondere die Zahlen- und Wortbilder von Robert Indiana.  Im Herbst 1968 gibt Stüssi seine Stelle bei der „metron“ auf, um fortan freiberuflich künstlerisch tätig zu sein. Als erstes reist er jedoch für sechs Wochen nach Berlin, Hamburg,  Skandinavien und Prag. Heiner Richner, der an der Hochschule der Künste in Berlin studiert, nimmt ihn mit in Ateliers und Kneipen. In Hamburg sieht er Teile der auf amerikanische Kunst ausgerichteten Sammlung Ströher, in Stockholm das „Moderna Museet“ usw. Zurück in Aarau mietet er ein Atelier in Gränichen und alsobald machen sich in seinem Schaffen erste Ansätze von Pop Art bemerkbar, die Arbeiten haben nun vermehrt Flaggen-Charakter bis dann mit den Zahlen- und vor allem den Wortbildern die Pop Art ins Zentrum rückt, zunächst ohne die Vorgaben des Konstruktiven aufzugeben, später das Wort und die Schrift immer stärker als kompositorische Konstitutiven betonend. Gleichzeitig wechselt Stüssi auch vom geklebten Papier zur  Malerei mit Kunstharzfarbe, steigert das Format auf 135 x 114, später auf 265 x 190 cm und dies nun auf Leinwand, die – einer Plane gleich – mit Ösen verstärkt direkt an die Wand gehängt wird. In einer zugemieteten Garage kann Stüssi mit Spritzpistole, Pinsel, Schablonen etc. arbeiten, was die „amerikanische“ Grösse und das als „Auflehnen gegen die Tradition“ bezeichnete technische Vorgehen überhaupt erst möglich macht.

Obwohl Stüssi damit aus heutiger Sicht eine durchaus individuelle und kompositorisch überzeugende Sprache fand und die Wortebene mit Bildern wie DUBCEK, ANNA, GLAUBEN, DENKEN, LIEBEN, LEIDEN, KUESSEN inhaltsbetont einsetzt, gelangen die Bilder nie an die Öffentlichkeit, nicht einmal für die Annahme zu den Weihnachtsausstellungen in Aarau von 1968 und 1969 reicht es. Das erstaunt und auch wieder nicht. Mit den Künstlern der Ateliergemeinschaft „Ziegelrain“ (Max Matter, Christian Rothacher, Heiner Kielholz, Markus Müller) ist dem Mass an toleriertem Aufbruch offenbar vorerst  Genüge getan. Die eigentliche Öffnung erfolgt erst 1970 mit der Wahl von Heiny Widmer ans Aargauer Kunsthaus. Auch der  überregionale Erfolg der sogenannten „Ziegelrainler“ findet erst nach 1970 statt – da irrt sich Marcel Stüssi im bitteren Satz in seinem Lebensbericht. Stüssi aber ist 1970 bereits in Basel und, da er kein Aargauer Bürgerrecht hat und sich somit auch nirgendwo bewerben kann, ist er fortan nurmehr vereinzelt im Aargau präsent. Dass ausgerechnet die „Aarauer Arbeiten“ jetzt Teil der Sammlung des Aargauer Kunsthauses sind und von den beim Kanton Beschäftigten gerne als „Büroschmuck“ ausgewählt werden – die grosse Leinwand SUISSE zum Beispiel befindet sich im Arbeitsraum des Staatsschreibers – entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Es ist als hörte man das so oft zitierte „verschmitzte Grinsen“ des Künstlers, der mit dem testamentarischen Vermächtnis  der „Aarauer Arbeiten“ zugleich pragmatisch dachte im Sinne von Aarau zu Aarau wie er auch  bewusst posthume Anerkennung forderte. Hier auch mit Erfolg – im 2007 erschienenen Sammlungsband des Aargauer Kunsthauses ist das Legat mit Bild repräsentiert.

Doch vorerst sind die „Aarauer Arbeiten“ ein gründlicher Misserfolg. Die Investition des Erbes in gutes Material zahlt sich in nichts aus, niemand „trägt“ ihn und in Kombination mit einer unglücklichen Liebesgeschichte versinkt Marcel Stüssi in eine besorgniserregende Depression mit psychopathischen Zügen. Letzlich kommt es im Frühjahr 1970 zur Zwangseinweisung in die Psychiatrische Klinik in Königsfelden. Erstaunlicherweise ist der Schritt richtig; Stüssi erduldet die drei Monate und freut sich auf die Entlassung. Wer ihm den Tipp und den Mut gab, sich genau in dieser Zeit um einen Studienplatz in der Malfachklasse von Franz Fedier an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel (der heutigen Fachhochschule für Gestaltung) zu bewerben, ist leider nicht bekannt. Wesentlicher ist, dass Franz Fedier, der von Bern her mit den US-Kunstströmungen bestens vertraut war,  ohne Umschweife zusagt. Und der Aargau ihm ebenso problemlos ein dreijähriges Stipendium zuspricht. Der erste Erfolg im Leben von Marcel Stüssi.

Ab Oktober 1970 lebt Marcel Stüssi in einer Dreier-WG an der Jungstrasse in Basel und besucht die AGS. Er quittiert die Chance mit einem unglaublichen Aufbruch, genährt von der erstaunlich experimentellen Atmosphäre an der Schule. Marcel Stüssis Schaffen fächert sich auf – nichts, das nicht Kunst werden könnte. Er malt, collagiert, schafft freche Pop Art-Objekte mit WC-Brillen und Mäusefallen, Fenster-rahmen, Klo-Spülungen und vielem mehr. Er fotografiert, lithografiert, monotypiert, ätzt. Er konstruiert Skulpturen. Und beginnt experimentell mit dem Medium Fotografie umzugehen. 1972 lanciert er mit einer Postkarten-Ballon-Aktion den Beginn der späteren Mail-Art (ab 1982/83). Alles zusammen und  gleichzeitig. Eine Stilrichtung ist nicht im engeren Sinn auszumachen. Dennoch lassen sich anhand der Vorliebe für Collagen, die Gleichzeitigkeiten von Verschiedenem assoziativ vernetzen, für abstrakte, rhythmische Bildfindungen sowie der Einbezug der eigenen Person als Motiv als wegweisende Tendenzen erkennen. Manchmal überlagern sich die Richtungen auch. Anders ausgedrückt: Das Kompilieren von Bestehendem, das Erzeugen von Bildern mittels Technik sowie Ansätze von Performance interessieren ihn mehr als klassisches Zeichnen und Malen.

Die Malfachklasse Franz Fediers ist in dieser Zeit ein ziemlich freier Betrieb, der Lehrer ist in der Regel an drei Tagen pro Woche präsent.  Gewicht  wird auf konzeptuelle Projekte gelegt, gemalt wird kaum. Die Klasse ist auch noch nicht institutionalisiert, das heisst, man kann sie besuchen, aber nicht mit einem Diplom abschliessen. Sie umfasst rund 25 Studenten aus der Schweiz wie aus dem Ausland, die, einem rollenden 3-Jahres-Turnus folgend, ein- und austreten. Zu Stüssis Mitstudenten zählt u.a. der Plastiker René Zäch. Sie hätten ihn nur den „Max“ genannt, erinnert er sich, Marcel habe so gar nicht zu seiner eigenwilligen Art  gepasst. Die Aargauer Malerin Marlies Werder hingegen hat ihn als „liebenswürdig“ in Erinnerung.  Franz Fedier attestiert Marcel Stüssi in der angeforderten Schul-besuchs-Bestätigung 1973 eine „beachtliche künstlerische Entwicklung“.

Im Rückblick sind es vor allem die Objektarbeiten, von denen sich heute  einige in der Sammlung des Kunsthaus Baselland befinden, die nichts von ihrer frischen Frechheit verloren haben. Das aufgeklebte, weisse Leibchen auf blau zerkratztem Untergrund mit roter Innenform und gleichfarbigem Absaugstöpsel als „Kopf“ und einer WC-Spülkette mit gelbem Griff als „Arm“  findet zwar, genau  so wenig wie die anderen Objektarbeiten, eine Fortsetzung im Werk von Marcel Stüssi, erzählt aber sowohl formal wie inhaltlich – im Sinn von „jetzt wird gesaugt und gespült“ –  von derselben, inneren Freiheit bezüglich Tradition und Aufbruch wie sie auch die ab 1973 entstehenden „Versuche mit bearbeiteten Negativen“ kennzeichnen.

Bereits 1972 beginnt Stüssi Fotos (unter anderem Selbstporträts) zu Serien in strenger vertikal-horizontaler Anordnung im Format von 65 x 75 cm zu bündeln. Die Idee dazu, so schreibt Stüssi in einem Text, habe er  den damals weit verbreiteten Plakaten des Schweizerischen Naturschutzbundes mit „Geschützten Pflanzen in der Schweiz“ entlehnt. Solch pragmatische, naheliegende Umsetzungen gibt es im Werk von Marcel Stüssi immer wieder. Allerdings kannte und bewunderte er auch die seriellen Siebdrucke von Andy Warhol, die wohl gerade für die Konzeption der Selbstporträts nicht unwesentlich sind.

In diesen Serien geht es von Anfang an nicht um Erzählung, sondern um Rhythmus und Komposition, um Bilderscheinung und um Steigerung durch Vervielfachung bei gleichzeitigem Wandel von Sicht und Perspektive. In einer Arbeit von 1973, die er lediglich „Im Klassenzimmer“ nennt, stösst Stüssi dabei mit Aufnahmen, die nurmehr malerische Pinselzüge zeigen, an den Rand der Abstraktion. Unmittelbar danach wechselt er zur direkten Bearbeitung von unbelichteten, jedoch entwickelten Foto-negativen. Diese erste Serie nennt er mit typisch stüssischem Witz  „Nicht auf dem Mond“.  Sie zeigt in deutlicher Anlehung an die vorangegangene Serie 20 künstliche „Landschaften“. Die zweite sucht dann Zeichnerisches einzubringen, Räume und Figuren – eine Foto-Theater. Die Methode, so steht es in einem Text, habe er von der schabenden Korrektur-Praxis auf Architekturplänen übernommen.

Man bedenke, dass Fotografie in dieser Zeit noch nicht  als „Kunst“ akzeptiert ist, freier, künstlerischer Umgang mit dem Medium noch kaum bekannt. Zwar gab es die Fotogramme der Dada-Generation, doch Sigmar Polkes und Gerhard Richters fotoexperimentelle „Umwandlung eines Bergmassivs in eine Kugel“ von 1968, die als Beginn der Kunstfotografie in einem zeitgenössischen Sinn gilt, war öffentlich noch kaum rezipiert.  So kann man Marcel Stüssis bearbeitete Negative durchaus als pionierhaft bezeichnen, obgleich zu erwähnen ist, dass, wie sich der Basler Künstler Werner von Mutzenbecher erinnert, auch Franz Fedier damals mit Fotografie experimentierte und auch im Filmischen, für das sich Stüssi ebenfalls interessierte, Aufbruch angesagt war.  Irgendwie lag es also in der Luft. Die Details wären zu erforschen.

Im Vergleich zur „Enge“ von Gränichen in den späten 1960er-Jahren, ist Stüssi nach Abschluss der Schule in Basel voller Optimismus; zu Recht. Aufbruch heisst jetzt „Ausland“. Der 30-Jährige bewirbt sich um das Basler Atelier in der „Cité internationale des arts“ in Paris und erhält es auch. Das bedeutet eine massgebliche Anerkennung seines Schaffens. Stüssi ist nun ein Basler Künstler und wird das zeitlebens bleiben. In den Monaten in Paris steht die Fotografie im Zentrum seiner Tätigkeit. Zum einen entwickelt er die Methode der Bearbeitung von Negativen weiter, kritzelnd, stechend, druckend, malend.  Je nach Vorgehensweise erzeugt er damit im reproduzierten Bild schwarze oder weisse Sterne, Linien,  Flecken, Fingerabdrücke und andere Texturen mehr. In der Montage zur Serie entstehen rhythmisch bewegte, abstrakte „Fotografien“.

Zum andern lichtet Stüssi Strassen, Häuser, Plätze ab, die er, zum Beispiel im 28-teiligen, immer noch dem Format 65 x 75 cm folgenden Blatt „Rue de Rivoli“, so anordnet, dass durch geringfügige Abweichungen des Kamerawinkels (es musste ja jede Foto einzeln gemacht werden!) eine Dynamisierung des Motivs entsteht, dieses gleichsam aus seiner sicheren, statischen Verankerung gehoben wird. Ähnlich geht Stüssi auch mit Nahaufnahmen von Details vor.  Die Fotos von klassischen Pariser Sehenswürdigkeiten vom Eifelturm über die Champs Elysée bis zur Notre Dame, die ebenfalls in diesem Pariser Jahr entstehen, signiert und bearbeitet er erst zwei Jahre später.

Bereits 1972 gelang Marcel Stüssi erstmals der Sprung in die Weihnachtsausstellung in der Basler Kunsthalle und auch in den folgenden Jahren und bis weit in die 1980er-Jahre überspringt er die Hürde der Jury regelmässig. Ab 1973 verfügt er zudem über ein Atelier in der Kaserne (später Atelierhaus Klingental genannt)  und beteiligt sich ab der Eröffnung des  Ausstellungsraumes der Basler Künstler daselbst (1974) regelmässig an Werkschauen.  Auch andernorts ist er in kleinem Rahmen präsent. Aber davon kann er nicht leben. Also ist wieder Bauzeichner-Tätigkeit angesagt. Bis 1981 arbeitet Marcel Stüssi in verschiedenen Architekturbüros in Basel (u.a. bei Schläfli und Vischer), dazwischen auch einmal als Registrar am englischen Seminar der Universität. Stüssi sei regelrecht  zum „Beschriftungsexperten“ geworden, schreibt Prof. Dr. E. Kolb im Arbeitszeugnis. Diese Erfahrung spiegelt sich später in der Akribie, mit welcher Stüssi alles, was er tut, liest, hört, erhält, schreibt und verschickt  klassifiziert und in  Ordner unendlicher Zahl ablegt. All dieses Gesammelte, Datierte, Beschriftete ist heute im Museum für Kommunikation in Bern gelagert. Sich im Detail „durchzufressen“ wäre monatelange Arbeit.

Ein überaus erfolgreiches Jahr ist 1977. Nach vergeblichen Versuchen 1968 und 1969 bewirbt sich Marcel Stüssi erneut um ein Eidgenössisches Stipendium und diesmal klappt es. Stüssi dürfte damit einer der ersten Künstler in der Schweiz sein, der für Fotografie einen Preis für freie Kunst erhält. Das beflügelt ihn in jeder Hinsicht. Er beantragt das Basler Bürgerrecht, lernt Autofahren und reist erneut nach Paris. Denn endlich will er eine Idee umsetzen, nämlich die Kombination von Abbildfotografie und Negativ-Bearbeitung. Obwohl in keiner Schrift erwähnt, erinnert sich die Schreibende, dass Stüssi erzählte, die Idee dazu sei ihm an einem Regentag gekommen als auf der Kamera-Linse plötzlich Tropfen waren und er im Sucher Bilder mit Wasser-Interventionen sah. Konsequent überträgt er nun die Zeichen, Gesten, Drucke, die er schon 1974/75 anwendete, auf respektive in die entwickelten Foto-Negative der Île de St. Louis, des Arc de Triomphe, des Centre Pompidou usw. Teilweise überlagern die Zeichen die Motive unabhängig, teilweise passt er sie in die architektonischen Gegebenheiten des Bildes ein. Als Motivation nennt er das Durchkreuzen von Klischées, gesteht aber auch eine „gewisse Lust am Zerstören“ ein. Stüssi gelingt sowohl mit den Reihungen wie mit den Einzelvergrösserungen zweifellos ein wichtiger Beitrag zur zeitgenössischen Kunstfotografie der 1970er-Jahre. Und es wundert in keiner Art und Weise, dass Urs Stahel 2002  praktisch den gesamten fotografischen Nachlass Stüssis in die Sammlung des Fotomuseums in Winterthur aufnimmt.

Die Hochstimmung hält bis in die späten 1970er-Jahre an. Im Zentrum steht nach wie vor die Fotografie, doch verstärkt sich nun auch das Interesse am Film. Bereits 1973 entstand ein erster Super-8-Streifen, doch gibt er ihn erst nach Bearbeitungen 1975 und 1978 frei. Es handelt sich dabei um Filme nach demselben „Muster“ wie die bearbeiteten Foto-Negative. Das heisst er bearbeitet das Filmmaterial direkt, ohne Abbild, und erreicht so denselben experimentellen Ansatz bezüglich des Mediums wie in der Fotografie.  Nicht weniger als 10 Filme tragen die Jahrzahl 1978 und 1979. Als Störung respektive Verdoppelung von Bildebenen nutzt er im Film vor allem Spiegelungen, zum Beispiel anhand von Filmsequenzen aus dem fahrenden Zug. Film und Fotografie laufen nun parallel. Doch Stüssi sucht auch die Wechselwirkung mit der Malerei, etwa im Landschafts-Film „Grün wie lieb ich dich grün“, den er mit Begriffen wie „seidengrün“, „rembrandtgrün“, „türkischgrün“ durchsetzt. Das Rhythmische der Fotoserien erscheint im Film als Chronometer – besonders gelungen in „Unsere Fenster“, in dem er Basels Vitrinen an der Freie Strasse mit 1 Bild pro 1 Minute während 24 Stunden zum Film rafft. Gelungen im Sinne der Suche nach neuen filmischen Bildern, ebenso aber in Bezug auf sich selbst. Das Raffen von Vielem in Eines, der Versuch, die Zeit in Form zu bündeln, der Antrieb einem Alles Bild zu geben sind Charakteristiken, die ebenso das Werk Stüssis wie ihn selbst charakterisieren, später mit deutlich manischen Zügen.

Dabei geht es immer auch darum sich selbst als  Urheber, als eine Art Rotationszentrum zu definieren. In  der Filmographie ist hier insbesondere das stark rhythmisierte Selbstporträt von 1978 zu erwähnen, das Stüssi – ähnlich den frühen Fotos mit Hand-Zeichen – als eine Art Signet auf der Autobahn, im „Rhy-Blitz“, um und auf dem Wasserturm zeigt. Aufschlussreich ist auch der Wandel zum Selbstporträt von 1982-88, das ihn „mixed up with Laurel + Hardy“ zeigt, das heisst er kann sich in den 1980er-Jahren nurmehr mit Galgenhumor in Szene setzen. Davon später mehr.

Das Interesse, das dem filmischen Schaffen Stüssis gerade in den letzten Jahren entgegengebracht wurde, gründet einerseits im Interesse junger Kunstschaffender am experimentellen Film der 1970er-Jahre, der mit einfachen – um nicht zu sagen unprofessionellen – Mitteln Ideen umzusetzen wusste, radikal und ohne Schielen auf verführerische Ästhetik. Killian Dellers, der das filmische Werk Stüssis bewahrt, sagt es so: „In den 1980er-Jahren wurde Stüssi für uns zum Underground-Star. Wir versuchten auch wie er Zooms hin und zurück auf Lampen zu machen, doch die Wirkung war nie dieselbe, nie wir erreichten seine Penetranz und Authentizität.“

Zurückgeblendet heisst das auch, dass es in Basel in den 1970er-Jahren eine kleine, lebendige Avantgarde-Filmszene gab, zu der u.a. auch Werner von Mutzenbecher zählte, und dass diese Szene Stüssi akzeptierte, ihm gar die Redaktion der „Filmfront“ überträgt (vermutlich froh, dass er die Arbeit macht), ihm so aber auch eine Selbstwert stärkende Rolle gibt. Dass er das monatlich erscheinende, im Fotokopierverfahren hergestellte Heft als eine Art „Selbstverlag“ (miss)braucht, sei nur am Rande erwähnt.

Marcel Stüssi hat in dieser Zeit noch Kontakt mit seinen Geschwistern, doch verläuft deren Leben gänzlich anders. Ansonsten gibt es kein persönliches Beziehungsnetz und vor allem auch keine Freundin. 1979 gibt es diesbezüglich immerhin einen Lichtblick – eine auf einem  Friedhof entstandene, äusserst theatralische Fotoserie zeigt Stüssi, wie er opernhaft und begleitet vom Licht des Mondes um die Hand einer jungen Frau anhält; bezeichnenderweise per Selbst-Auslöser aufgenommen. Doch er strahlt auf diesen Fotos wie ein Laubkäfer und als Betrachtende freut man sich mit. Dann wird es aber – wie Briefe verraten – auch da schon wieder „kompliziert“.

Sowohl in diese Fotoserie wie in zahlreiche anderen der späten 1970er-Jahre integriert Stüssi mit Schreibmaschine geschriebene Zitate, von Brecht („Der Mensch ohne Mitmensch ist kein Mensch“), von Heine, von Rimbaud ( „Je est un autre“), aber auch von Jan Dibbets,  Havemann („Das Leiden ist irrational“), von Galilei und vielen anderen mehr. 1977 hatte er mit den „Tagebuchartigen Reflexionen aus Gelesenem und wenig selbst Geschriebenen“ begonnen, das ihm als Fundus dient. Dieses fünf Bundesordner umfassende „Tagebuch“ erlaubt es, Stüssis Leben von 1977 bis 1980 fast Tag für Tag nachzuvollziehen, seine Galerie- und Konzertbesuche, Persönliches wie „In die Sauna gegangen“ oder „Im Stadthof eine Pizza gegessen“ oder „Wieder einmal einen Detailplan gezeichnet“. Daneben hält er darin aber auch Kernsätze (meist aus der Basler Zeitung) zu Macht, Ethik, Psychologie, Politik, Geschichte fest.  Es ist die Zeit der Basler Foto-Porträts zu Landwirtschaft, Milch, Öffentlichem Verkehr, der Stadt, den Busfahrern, aber auch die Zeit romantischer „Collagen“ zu Menschen und deren Lebensbildern, zu politischen Themen wie der Hungersnot in  Biafra zum Beispiel, und nicht zuletzt zur Kunst als Lebensform, zur eigenen Position in diesem Kontext.

Dann ist die Epoche der Fotografie mit einem mal vorbei. Nach 1979 tritt die Fotografie nur noch vereinzelt auf, ausser zu dokumentarischen Zwecken. Wieso? Ist der Schlüssel der mit einem Stempel eingebrachte Satz „Bildermacher sucht Mäzen“  oder die Sentenz „ Kunst ist die Perversion des Lebens“ ? Fakt ist, dass er in einem Film-Selbstporträt von 1979 sagt, mit dem nicht narrativen Film, wie er ihn pflege, sei natürlich kein Geld zu verdienen und er werde sich wohl in Zukunft vermehrt dem Bilder machen widmen, das mehr Marktchancen habe. Das gilt in dieser Zeit auch für die Fotografie, die noch kaum von irgendjemandem angekauft wird.  Gleichzeitig ist 1979 ist ein unglaublich produktives Jahr – auch sein Jugendbericht und der wichtigste Text zu seinem Vorgehen in der Fotografie entsteht in diesem Jahr. Es ist als wollte er etwas abschliessen. Doch was? In seinem Ordner sind die letzten Bilder jene mit seiner Freundin. Daraus eine romantische Schlussfolgerung zu ziehen, ist indes gefährlich.

Noch bis 1981 bleibt er berufstätig, dann zieht er auch da einen Strich und wird „freier Künstler“. Nicht aus einer Position des Erfolges, im Gegenteil. Aber vermutlich doch aus einem inneren (trotzigen?) Entschluss heraus, die Kunst nun definitiv zu seinem Leben zu machen, Finanzen hin oder her. Er verlässt die Gemeinschaft an der Jungstrasse und lebt fortan – zunächst illegal, später toleriert – in seinem Atelier in der Kaserne. Es ist ja mit seiner Eck-Situation im obersten Stock auch eines der schönsten!

Bereits 1978 war eine Bleistift-Serie entstanden, die künstlerisch zurück führt in die Aarauer Zeit und die konzeptuelle Ausrichtung an der Schule. Es sind je identische Zahlen, die in satter Zeichenhaftigkeit respektive locker-leichten Schreibweise die 60 x 80 Zentimeter grossen Blätter in konstruktiver Anordnung bis an den Rand füllen. Da geht Stüssi nun in den frühen 1980er-Jahren weiter, ruft Geometrie, Struktur, Ornament und vor allem auch die Farben zurück in sein Schaffen.  Interessanterweise holt er ins chronologische Werkverzeichnis quasi von hinten eine Dispersions-Malerei von 1973 hinein, die ihn – ähnlich wie in Film und Fotografie – zeichenhaft und mit selbst konstruierten, geometrischen Signalen zeigt; hier als dunkle Schemen auf grüner Landschaft vor rotem „Himmel“  und betitelt: „Was bedeutet die Zeichengebung vor den Wolken?“

Es ist ein Sinnbild, denn die Zeichen fungieren wie Stablampen, mit denen die Figuren etwas zu erkunden suchen. Stüssi selbst orientiert sich schon länger und jetzt mit mehr Zeit noch intensiver am gesellschaftlichen, am politischen Geschehen vor Ort und in der Welt und untermauert es mit historischen und philosophischen Recherchen. Er verbringt viel Zeit in Bibliotheken und weil er sich kaum Bücher kaufen kann, schreibt er auf, was ihm relevant scheint. So entsteht mehr und mehr ein eigener tagebuchartiger Kosmos, genährt von der Befindlichkeit eines trotz Integration in die Basler Kunstszene Einsamen, der vom Trauma des immer wieder Abgeschobenen nie ganz  loskommt und darum die Solidarität mit Spiegelbildern sucht.

Die Leinwand von 1973 ist der Auftakt zu einer umfangreichen Serie von  Fettkreide- und Filzstift-Blättern (1981-84), die das Prinzip der malerisch bearbeiteten Collage (man denke an die Serie von 1967) aufgreift und Schrift, Figuren (oft gepaust), Gebäude, Gegenstände und freie Farb-Formen kombiniert. Der Kopf Hitlers taucht dabei ebenso auf wie das Basler Rathaus, die englische Flagge, das Münster, eine Marienfigur, Stüssis Silhouette, ein Feuerlöscher, ein Rotweinglas, ein Gardist der englischen Krone und Sprüche wie „I dr’Mitti, i dr’ City“ oder Schriftzüge wie „good news“ usw. Lokale Diskussionen, Angelesens und Weltpolitisches mischen sich.

Sich um Integration bemühend, aber auch auf der Suche nach Ausstellungsmöglich-keiten tritt Marcel Stüssi (wohl 1981) der Künstlergesellschaft GSMBA (heute visarte) bei, arbeitet im Laufe der 1980er-Jahre gar im Basler Vorstand mit. Finanziell ist die Situation schwierig; er kann es aber immer vermeiden, fürsorgeabhängig zu werden.

Er kämpft und zuweilen gibt es auch Grosszügige, die ihm etwas zustecken, ein Darlehen gewähren (das meist irgendwann mit Bildern abgegolten wird) oder er versucht sich selbst als Händler mit Gesammeltem, zum Beispiel Telefon-Taxkarten oder er klebt auf billigen Rotwein Stüssi-Weinetiketten und verkauft die Flaschen, die er sonst eigentlich gerne selbst trinkt. Häufig trifft man ihn an Vernissagen – ebenso in Basel wie an anderen Orten in der Schweiz (Autostop sei dank) – denn da gibt es etwas zu essen und zu trinken. Allerdings ist hier auch das gesellschaftliche Moment wichtig, obgleich so viele ihn nur in Erinnerung haben wie er an den Eröffnungen irgendwo an die Wand angelehnt steht und hinter dem typischen Stüssi-Lächeln seine Unsicherheit verbirgt. Denn je älter er wird, desto eigensinniger wird er. Man liebt ihn zwar, erlebt ihn als Basler Figur, aber jede Diskussion – so erzählen fast alle – habe nach wenigen Minuten in Streit gemündet, weil für ihn nur das Gültigkeit hatte, was er selbst für sich erkannte und in seine Welt eingeschrieben hatte. So akzeptierte man ihn einerseits, mied ihn aber gleichzeitig. Dadurch wird er  noch einsamer, umsomehr als der Alkohohl ihn nicht sanft macht, sondern aggressiv, sodass letztlich gar die Angst umgeht.

Wer ihm jedoch zuhörte und zusah wie sich da Visionen – insbesondere zum Lauf der Geschichte, zum Holocaust, zu Stalin und später zum Fall der Berliner Mauer – zu einer ebenso schrägen wie persönlichen Weltsicht formten, erkannte jedoch die treibende Kraft, die zugleich auch sein künstlerisches Potenzial war.  Immer wieder kehrte unter anderem die Geschichte, wonach Stalin seiner Ansicht nach die Schweiz gerettet habe indem er Hitler angriff und so die Eroberung der Schweiz verunmöglichte.

Ein wichtiger Eckpunkt in Leben und Werk von Marcel Stüssi ist der Einstieg in die „Mail-Art“ 1982 (man vergleiche hiezu den Text von Karl Kronig). Die postalische Kommunikation mit Menschen aus der ganzen Welt ersetzt ihm auf virtueller Ebene die unmittelbaren Begegnungen mit Menschen, wie sie für ihn, so lange er berufstätig war, alltäglich waren. Stüssi war keine Pionier in Sachen Mail-Art, aber die Struktur – das Kommunizieren über kommentierte bildnerische Gestaltung, die ebenso sehr auf Handeln wie auf Inhalt ausgerichtet ist – entspricht ihm so sehr, dass er in kürzester Zeit zu einem der aktivsten Mail-Artisten der Schweiz wird. Bezeichnend – und wertvoll – ist dabei, dass er nicht nur einem Bürolisten gleich alle Eingänge in die Schreibmaschine einspannt und das Empfangsdatum notiert, sondern auch das, was er verschickt in (Foto)-Kopie bei sich behält. Wundert es, dass es insgesamt 51 Ordner sind, welche die Eingänge und 22 Ordner, welche die Ausgänge bündeln? Von Dokumenten, Unterlagen und Ergänzungen ganz zu schweigen. Es sei hier als Assoziation Dieter Roth (Island/Basel) erwähnt,  der ebenfalls zu den Mail-Artisten zählte und in dessen Hang zu Ordnern mit Gesammeltem, dessen Spannung zwischen Chaos und Ordnung, in dessen Tendenz zur Selbstinszenierung, in dessen Verletzlichkeit, Alkohohlgenuss und weiterem mehr sich zahlreiche Vergleichspunkte zum Schaffen von Marcel Stüssi erkennen lassen.

Vereinzelt gibt die Mail-Art Stüssi Anlass zu Reisen, insbesondere an Mail-Art-Kongresse (zum Beispiel nach Minden (D)), doch primär spielt sich die „Correspondance Art“ virtuell ab. Sie ist auch eine seltsam unpersönliche. Zwar gibt es da einmal einen Versand mit einem Selbstporträt, das Stüssi zeigt wie er auf seinem Bett im Atelier liest und sich in zitierter Anlehnung an Carl Spitzweg als „The poor poet – Networker“ bezeichnet. Ansonsten reduziert sich Persönliches weitgehend auf identifizierende Zeichen, Stempel zum Beispiel. Guy Stuckens aus Brüssel schneidet Stüssi 1986 ein solches Markenzeichen, das fortan alle seine Versände markiert.  Die Themen, die  – häufig in Form einer Art „Ausstellungen“  – behandelt werden, sind im weitesten Sinn magazinartig. Stüssi selbst lancierte anhand von Vorlagen, die von den Teilnehmern beantwortet wurden, Themen wie „Glasnost“ (1990), „Elvis“ oder auch schon mal die Melodie eines Kinderliedes, zu welchem er 133 Antworten erhält.  Stüssi ist sich bewusst, dass „Distance-Communication-Art“ als Phänomen durchaus skulpturale und damit künstlerische Bedeutung hat, dass aber die „wirklich bildenden Künstler“ unter den Netzwerkern „eine Minderheit sind, wenn auch eine tragende“. Ein Problem ist  – wie immer – die Finanzierung. Ein typischer Stüssi-Trick geht dahin, dass er in der Versandversion stets mit Fotokopien schafft, da diese als „Drucksache“ billiger versandt werden können.

Die Mail-Art ist für Marcel Stüssi wichtig, vor allem weil sie die Enge seines Ateliers und selbst die Enge Basels sprengt. In der Kunstszene weiss man um seine „Global Art“ – er fördert es auch durch die konsequente Erwähnung von Details in seinem Palmares – doch zu seinem Renommée am Kunstmarkt trägt es wenig bei. Aber es beeinflusst die Art des freien, bildnerischen Schaffens nachhaltig. Die Collage, das Übermalen, das Überschreiben, das Verweben von Bild/Zeichnung und Kommentar, das bildliche Gestalten mit Schriftzeichen wird mit der Mail-Art zum zentralen Faktor in Stüssis Kunstschaffen. Nicht im Sinne eines Bruchs mit Früherem, im Gegenteil, es ist ausgesprochen spannend zu sehen, wie sich in Stüssis scheinbar disparatem Schaffen immer und immer wieder Zurückliegendes mit Neuem, auch das eine Medium mit dem Anderen, vernetzt und so einen übergeordneten Werk-Charakter definiert.

Ein solches Alt/Neu-Beispiel sind die um 1984/85 übermalten Lithographien, die auf der Basis von Drucken aus der Kunstgewerbeschulzeit entstehen. Er ergänzt – zum Beispiel die Kreuz-Zeichen wie sie schon mehrfach erwähnt wurden – um kleine illustrative Szenen, welche die Auseinandersetzung mit dem Film (auch dem Trickfilm) verraten. Vielleicht ist es das Basler Künstlerstipendium  (1984), das dem Humor Einlass in seine Kunst erlaubt. Ebenfalls 1984 entstehen eine Reihe zukunftsweisender Tagebuchblätter, die erstmals in diesem Mass – und völlig anders als zur Zeit der Pop Art – Schrift als malerisch-zeichnerisches Element nutzen. Am 23. Juni 1984 sind es die Worte „Stadt ohne Gott, ville sans âme, città senza Dio, town without soul“, die sich kreuz und quer über das Blatt legen, ergänzt um Flashs mit Begriffen wie „Reichtum, Macht, Geld, Arroganz“.

Gesamthaft betrachtet ist aber der Output in den ersten Jahren des „freien Schaffens“ nicht enorm respektive sehr disparat. Stüssi sucht seinen Weg auf verschiedensten Ebenen – er filmt, er publiziert in der „Filmfront“, er engagiert sich kulturpolitisch, er pflegt Kontakte, beteiligt sich vermehrt an Ausstellungen (nicht zuletzt dank der GSMBA), er fährt per Autostop an Vernissagen in der ganzen Schweiz, er liest – ebenso Literarisches wie Philosophisches und Politisches – , er schreibt, er mailt (im Sinne der Mail-Art), er druckt (vor allem Linolschnitte), er zeichnet, er bearbeitet, er collagiert – und dennoch will Nichts ganz zünden.

Stüssi muss gespürt haben, dass er sich zurückziehen muss, um zu finden. Er zieht  1986/87 für ein Jahr in eines der Ateliers im Werderhaus der Stiftung Alte Kirche Boswil im  Aargau. Das Freiamt ist weit ab von urbaner Ablenkung und so gelingt es Stüssi einerseits sein bisheriges Oeuvre Revue passieren zu lassen – Fotografien nach zu schliessen hängt er die „Wort“-Werke der späten 1960er-Jahre im Garten zu wechselnden Installationen. Andererseits ordnet er frühe Arbeiten, signiert sie zum Teil neu (zum Beispiel 1979/87). Gleichzeitig treibt er  Malerisches in bisher nicht gekannter Weise voran; gleichsam auf zwei Schienen.

Zum einen wagt er sich erstmals wieder an ein Grossformat – mit weitschweifigen Pinselzügen (vorwiegend in Nachtfarben) setzt er einzelne Figuren, integriert aber auch eine Sentenz aus Lenz von Büchner („….er suchte nach etwas, wie nach verlorenen Träumen, aber fand nichts“). Später übermalt er das Segeltuch, um es nach Winterthur („Kunst in der Stadt“, 1987) auch in Minden/Westfalen (1988) zu zeigen. Er befasst sich auch mit Mal-Rezepten (zum Beispiel nach Giovanni Giacometti) und, eventuell zu dieser Zeit, mit der Farbenlehre von Adolf Hölzel (1853-1934). Typisch ist, dass ihn nicht einfach die Theorie interessiert, sondern ebenso die Tatsache, dass Hölzels „Malschule“ in Dachau domiziliert war und dieser selbe Ort somit gleichzeitig für ein künstlerisches Ideal (Hölzel orientierte sich an Goethe) steht, wie „ein Synonym des Nazi (NS)-Terrors“ ist, wie er in seinen Schriften notiert. Schichtungen von Disparatem, das dennoch unsichtbar zusammengehört, sind in Stüssis Werk omnipräsent. Im jetzigen Zeitpunkt entstehen indes nicht Kombinationen, sondern eine Vielzahl malerisch frei flottierender Informel-Arbeiten, meist auf Papier, die (fast) ganz auf die Wirkung von Farb-Klängen ausgerichtet sind.

Zum andern lässt sich der notorische Sammler vom „Kleber“-Fimmel der 1980er-Jahre anstecken. Zunächst tapeziert er damit die Türe seines Kühlschrankes. Bis er auf die Idee kommt, die „Collage“ zu übermalen. Bei einem Händler (ev. in Boswil) ersteht er daraufhin eine stattliche Zahl von Kühlschranktüren und kombiniert Collage, Pop-Art und Informel zu originellen, vielfach in zahlreichen Schichten gespritzten Malerei-Objekten mit ironischem Warenwelt-Hintergrund.

Im Kleinen ist Marcel Stüssi  seit den 1970er-Jahren in Ausstellungen vertreten, doch ab Mitte der 1980er-Jahre nimmt die Zahl der Präsentationen – parallel dazu, dass er nun eben Arbeiten macht, die man ausstellen kann – deutlich zu. Nach einem Briefwechsel mit dem (damals bereits schwer kranken) Direktor des Aargauer Kunsthauses, Heiny Widmer, der sich positiv äussert („es interessiert mich“), kann sich Stüssi an der Weihnachtsausstellung 1985 in Aarau beteiligen und das Haus kauft als erste öffentliche Institution eine Reihe nachbearbeiteter Lithographien. In der Folge kommt es 1986 auch zur ersten Einzelausstellung in einer professionellen Galerie, der von Ruth Lienhard und Edgard Vogel betreuten „Werkstatt-Galerie“ in Aarau. Es folgen für Stüssi wichtige Ausstellungen in der Galerie Conrad und Charlotte Buris „Zem zwaite Gsicht“ in Basel. Er tritt auch dem Solothurner Kunstverein und der Kunstvereinigung Baselland bei, um daselbst präsent zu sein.  Dass er regionale Juries oft „mit links“ passiert, zeigt, dass man ihn nun ernst nimmt als Künstler – was ihn aber nicht seiner finanziellen Probleme enthebt. Ein Lichtblick ist 1988 ein Förderpreis des Kantons Glarus (Stüssi ist Glarner Bürger).

Von künstlerischer Bedeutung  ist 1988 der Beginn des sogenannten „continuo“-Werkes, einer Art Tagebuch, in welchem  der „Nachrichtensüchtige“ (Mutzenbecher) Weltpolitisches  und via Jubiläen, Todes- und Gedenktage auch Geschichtliches rezipiert und in spontanen Tusch-Pinselzeichnungen auf sogenannte „Gasser-Kartons“ von 1 m2 Grösse  festhält,  mit Wörtern kommentiert und mit Gesten, Drippings, (Fuss)-Abdrucken, später auch Porträts und Architekturen illustriert und vor allem emotionalisiert. Der erste Karton dieser bis 1990 dauernden und gemäss Verzeichnis 33 Arbeiten umfassenden Reihe widmet er Nelson Mandela, der am 18. 7. Geburtstag hat und den er mit „solidarity“ und „fReEdoM“ assoziiert. Es folgen Kartons zu „Gewitter“, „Feuerwerk“, „Hiroshima“, „Jesse Jackson“, „John Lennon“, zu „Hitlers Ende“ (mehrfach), dem Fall der Berliner Mauer (mehrfach), zu Steve Biko und anderen Themen mehr. Die Konzentration auf dasselbe Format, die Reduktion auf schwarz (selten etwas rot), auf Schriftbild (intellektuell rezipierbar) und frei-expressiven Gestus (emotionaler Ausdruck) macht diese Reihe zu einer der eindrücklichsten in Marcel Stüssis Werk.

Das continuo-Werk (in jeder Arbeit so bezeichnet) mündet 1991 nahtlos in die offenere und nun auch wieder farbige Mischtechnik-Reihe der so genannten „Chaos-Blätter“, später der „Porträts“, der „reality – reality past“ und der „reality- reality now“ – Serien.

Dazwischen schiebt sich 1989 in seltsam ausufernder, fast schon „euphorisch“ wirkender Üppigkeit der Film, die Drucke, Übermalungen, Flyer, Installlationen für die Ausstellung/Aktion „Schwellentore“ mit 16 Basler Künstlerinnen und Künstlern in der ehemaligen Werkhalle von Schafir&Mugglin in Liestal. Stüssi zeigt daselbst neben einer riesigen Wort-Licht-Installation an der Fensterfront des Gebäudes mehrere „Film-Performances“. Über einem „Material-Environment“, das einem (einmal mehr) an Dieter Roth erinnert, zeigt er ältere und neuere Filme. Stüssi ist 1988 und 1989 Förderpreisträger der Film- und Videotage der Region Basel. Das gibt dem Zweig des nie ganz unterbrochenen Filmens neuen Auftrieb, sowohl in experimentellem Sinn („Zeit- und Stundenausschnitte“ 1988/89, 5 Min.) wie bezüglich der in Malerei und Zeichnung kaum relevanten Selbstinszenierung („Marcel Stüssi mixed up with Laurel + Hardy“ 1982-88, 17 Min.) wie auch einer sehr persönlichen Form von Dokumentation ( „Schwellentore“, 1989/92/93, 30 Min.).

Dieses ausufernde Moment, das im bisherigen Werk stets von einer Gegenkraft im Sinne konzeptueller, auch konstruktiv-ordnender Ausrichtung in kontrollierter Spannung gehalten war, übernimmt nun im Bildnerischen das Szepter. Die „Chaos-Blätter“ übernehmen Collage, Malerei, Übermalung, Schrift in „wilder“ Kombination, nutzen Medienbilder, Werbeschriften, Ausstellungseinladungen kunterbunt, verwenden Klebstoff,  Fettkreide, Farbe, Spritzpistole…. bis schliesslich ein all over-Wirbel die Komposition erfasst und das „Chaos“ in Gang setzt.  Die Arbeiten entstehen nun vermehrt auch nachts, wenn das Atelierhaus – in dem ja „Wohnen“ eigentlich nicht erlaubt ist – praktisch leer ist, wenn weder Musik noch Schreie jemanden stören und niemand Promille-Grenzen setzt.  Kunst  und Alkohol ist ein schwieriges Thema, obwohl man damit Bücher füllen könnte. Denn so zerstörerisch Alkohol einerseits ist, so kreativ-befreiend ist er oft auch und so  gehören denn die Chaos-Blätter und die praktisch gleichzeitig einsetzenden Porträts (von Vaclav Havel über Winston Churchill bis Louis Armstrong) ohne Zweifel zum Herausragenden im bildnerischen Schaffen Marcel Stüssis. Die lange Erfahrung hat ihn zeichnerisch voran gebracht und der Pinsel hat auch im Skizzenhaften eine radikal bestimmende Kraft, die nie nur Form umreisst, sondern immer auch charakterisiert und die handelnde Person dahinter zum Ausdruck bringt. Auch malerisch ist er wesentlich sicherer als früher, kombiniert den Pinsel mit dem Fettstift und der Spritzpistole ohne Brüche und findet auch im Ungezähmten stets zur bewegten, oft kreisenden Balance im Bild.

Ab 1992 tauchen die „Reality now – sheets“ auf, die sich in einem „va-et-vient“ zwischen skizzenhafter Narration und chaotischer Ungegenständlichkeit bewegen. Stüssi setzt sich darin mit verschiedensten Themen auseinander, mit dem „Hunger in Somalia“, dem Flüchtlingselend, mit dem Geist alter Kulturen (Ägypten, Mexico etc.), mit Shakespeare, mit Kokoschka, Nolde und anderen Malergrössen. Diesen folgen ab 1993 im Wechsel die „Reality (past) now – sheets“, die „Reality- Reality now-sheets“ und die Reality – Reality past- sheets“, die sich jedoch nicht grundlegend von den vorangegangenen Serien unterscheiden. Künstlerisch schwächer sind hingegen die „Flatbooks“, Collagen mit wenig malerischen Tupfern, die Stüssi aus zertrennten Büchern schafft. Der Output der Jahre ab 1991 bis 1995 und darüber hinaus ist insgesamt sehr gross, man kann vielleicht sogar von einer Art Schaffensrausch sprechen.

Der einzige Galerist, der das merkt und auch die Qualität erkennt, ist der Basler Harry  Zellweger. Trotz „Warnungen“ nimmt er Kontakt auf mit Marcel Stüssi, vereinbart mit ihm eine Ausstellung und die Herausgabe eines Kataloges. Stüssi geht darauf ein. Allerdings realisiert er fatalerweise nicht, dass der Galerist kein Mäzen ist, sondern ein Geschäftsmann, dass er den Katalog über Verkäufe respektive mit Überlassen von Bildern finanzieren muss. Kurzum: Der Katalog erscheint (wenn auch nur in kleiner Auflage), die Ausstellung findet statt, ist bezüglich Verkäufe so erfolgreich wie keine zuvor,  endet aber  im Desaster. Marcel Stüssi kommt mit dem „Kapitalismus“ des Kunstmarktes – den er zuvor nie im engeren Sinn erlebt hat – überhaupt nicht zurecht. Er fühlt sich in hohem Masse hintergangen und stellt in der Folge nie mehr in einer kommerziellen Galerie aus.

Stattdessen widmet er sich nun einem Buchprojekt, das seine fotografische Arbeit der 1970er-Jahre wieder ins Licht rücken soll. Vom Fachausschuss für Film, Video und Fotografie der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft erhält er hiezu einen Beitrag von 10 000 Franken, doch die übrige Finanzierung gelingt nicht, so dass das mit Leo Hollinger geplante Buch nie erscheint.

Ab 1994/95 scheint, parallel zu bisherigen Werk, eine eigenartige Entwicklung auf, die sich indes ganz klein schon seit 1987 vorbereitet hat. Vereinzelt tauchen seit dem Aufenthalt in Boswil Kinder in seinen Bildern auf und immer dann wird der Ausdruck seltsam sanft. Verborgenes verschafft sich durch einen kleinen Spalt äussere Form. In der „Blau-Serie“ genannten Reihe widmet er sich, scheinbar befreit vom Druck der Welt, märchenhaften  Szenen – ein Schiff auf einem Fluss mit einem Fisch, ein Storchennest („nun fliegen sie  wieder“), ein Zauberkönig, ein Piratenschiff, eine Eisenbahn, ein Lenin (der aussieht wie Alice im Wunderland) auf einsamem Sockel in fernem Grün. Später setzt er die Reihe – nun zeichnerischer – mit Tierporträts, wie man sie in Kinderbüchern findet, fort. Vor allem König Elefant (Babar lässt grüssen) ist ihm lieb und wer weiss, wen er meint mit der grossen, goldenen „Queen Elefant“ von 1996/97, die auf winzig kleinen Sternen steht.

Diese andere Seite klingt auch in den Gedichten an, die als weiteres Medium seit anfangs der 1990er-Jahre zum Gesamtwerk von Marcel Stüssi hinzukommen (vgl. Text ……). „WESCH mit dem SCHMARREN….wesch MIT DEM schmaren…weg WEG“, beginnt eines der frühen Gedichte. Es zeigt sich in wenigen Zeilen schon, dass dem Bildnerischen im Wortfluss ebenso Bedeutung zu kommt wie dem Inhaltlichen und darin – übersetzt – der Aufforderung, die Worte inhaltlich und zugleich lautmalerisch zu interpretieren, sie in jedem Fall nicht nur zu lesen, sondern laut zu rezitieren und dabei die Wörter mit den Lippen zu formen. Als Hintergrund dienen Stüssi zweifellos Gedichte aus der Zeit des Dadaismus, Wort-Arbeiten der Fluxus-Künstler vermutlich auch experimentelle Lyrik, eines Ernst Jandl zum Beispiel. Bereits im Katalog von 1992 veröffentlicht er eine Reihe seiner Gedichte. Sie sind nicht Nebenprodukt, sondern Assoziations-Collagen, die mit den gleichzeitigen „Chaos-Blättern“ eng verwandt sind. Da gibt es aber auch – parallel zur „Blau-Serie“ von 1994/95 – ein Gedicht, das fragt: „WARUM ERSCHOSS mein – SICH mein Vater? – RESTLICH BLAU überfärbt – der/die/DAS Letztliche. Die Farbe, DAS BLAU, – die KunstharzFARBE – das Blau, HAT MICH ANGESPRUNGEN, – fast wie ein Tier ! “ Es wäre eine Arbeit für sich, Gedichte und Bildwerke zu vernetzen. Wichtiger ist indes, daraus zu spüren, dass jedes Bild Stüssis seine eigene Geschichte hat, dass immer der ganze Stüssi mit drin war, wenn die Weltgeschichte ihn aufrüttelte und er ihr zeichnerisch, schreibend, malend, performend, collagierend, schneidend, filmend, fotografierend Ausdruck gab. Die Medienvielfalt von Stüssis Werk verliert darin das Disparate zugunsten einer vielteiligen Einheit von Leben und Werk. Es ist, als wäre alles zusammen eine „Skulptur“ – nicht unähnlich jener von Jean Tinguely, die als perpetuum absurdum jahrelang im Bahnhof Basel vor sich hin ratterte.

Als im August 1997 die Kunde vom tödlichen Motorrad-Unfall von Marcel Stüssi durch Basel ging, hinterfragte man die Gründe und fand keine Antwort. Er hätte sie wohl auch nicht zu geben vermocht. Manche Dinge zwischen Leben und Tod sind zu komplex als dass man sie in Worte fassen könnte. Marcel Stüssi hat sein Leben trotz schwieriger Parameter geschafft und ein Werk hinterlassen, dessen Fülle erst der Nachlass vollumfänglich offenbarte. Stüssi war ein einsamer – auch einer, der sich selbst immer wieder in die Einsamkeit trieb – aber letztlich hat er es nie aufgegeben, an den Sinn seines Tuns zu glauben. Und er hatte Recht damit – 10 Jahre nach seinem Tod ist er nicht vergessen, dank einer Vielzahl von Menschen – vorab sein Bruder Rudolf Stüssi –  ist das Werk lebendig und in Diskussion. Wer möchte sich darob nicht freuen!

Anmerkung: Das Vorwort muss die Geschichte des Nachlasses skizzieren. Und in der Biographie müssen die öffentlichen Sammlungen, die Werke von Stüssi haben, alle namentlich erwähnt sein.