Verena Lafargue Katalogtext Kunst am Bau Raiffeisen Biel 2008

Den Raum erkunden – mit mehr als nur dem Körper

www.annelisezwez.ch 

Gedanken von Annelise Zwez zum „luftruum“ für die Raiffeisenbank Bielersee im Kontext von Verena Lafargue Rimanns Kunstschaffens

Der „Luftraum“ liegt, gemäss Wikipedia, über dem gesamten Land- und Seegebiet eines Staates und gehört zum hoheitlichen Gebiet – entspricht somit in der Regel dem Grenzverlauf. Verena Lafargue nennt die bedeutende Kunst am Bau-Arbeit für den Hauptsitz der Raiffeisenbank in Biel nicht „Luftraum“, sondern „luftruum“.  Und sagt: „Für mich ist der berndeutsche Ausdruck wichtig“. Das heisst, es gibt ein Bedürfnis die Arbeit in Beziehung zur Muttersprache, zum Vertrauten, Eigenen, Körperlichen zu stellen. Überträgt man analog die lexikalische Bedeutung von Luftraum von der kollektiven auf die individuelle Ebene, so wird der „luftruum“ zum „hoheitlichen“ Körper-Umraum, zu einer Art Fühl-Raum rund um die physische Gestalt.

Betrachtet man das zentrale Bild auf dem gelben Kubus im Zentrum der Schalter-halle, die kleine Figur, die da mit ausgebreiteten Armen eine bis zur Decke des 1. Stockwerkes reichende Luft-Säule balanciert, so ist diese Interpretation leicht nachvollziehbar. Der „luftruum“ ist jenes Gebiet rund um jeden von uns, das niemand sieht, das wir jedoch alle – vor allem wenn wir die Augen schliessen – spüren. Es ist unsere Aura.

Ganz konkret ist es zunächst eine Plastikhülle, welche Lafargue in ihrem luftigen Atelier hoch über der Schüss aus grossen Folienfeldern zusammen geschweisst hat. Im Hinblick auf eine Foto-Performance im Grossen Moos im Berner Seeland. Es ist Februar, die für das Moos typische dunkle Erde ist gefroren. Für den Landwirt ist es darum kein Problem, der temporären Nutzung seines Bodens als „Bühne“ zuzustimmen. Die Künstlerinnen frieren, aber die Vision wärmt sie. Die Tänzerin Katharina Vogel soll gemäss Konzept der „Regisseurin“ die mit einer Luftpumpe aufgeblasene Hülle in Bewegung versetzen, auf dass sie lebendig werde, die „Welt“ erkunde. Die Fotografin Sandra Dominica Sutter prüft das Licht, sucht die Blickwinkel, will den Moment, da die Säule und die Landschaft zum „Bild“ werden, nicht verpassen. Hundertfach drückt sie auf den Auslöser der Kamera.
In welcher Form  die Fotografien schliesslich öffentlich werden sollen, ist noch nicht klar; wichtig ist zunächst nur, dass sie entstehen.

Es gibt im Schaffen von Verena Lafargue Foto-Performances, die in Form von Duo-Arbeiten mit Sandra Dominica Sutter als Foto-Abzüge auf Aluminum Werk-Charakter haben. Erwähnt seien die Serien der sogenannten „FOFO“ mit Lafargue als Performerin und Sutter als Fotografin. Zu nennen sind aber auch die den gelben Kubus ergänzenden Aufnahmen; mehr dazu später in diesem Text. In den letzten Jahren sind die Fotografien indes häufig Ausgangsmaterial für weiterführende Gestaltungen am Computer. So auch im Fall des „luftruum“.

In den frei definierbaren Räumen des „Photoshops“ verwob Verena Lafargue die bereits 2004 im Grossen Moos eingefangenen und weitere, eigene Aufnahmen im Hinblick auf das Kunst am Bau-Projekt für die Raiffeisenbank zu mehrschichtigen Collagen. Aus der Kombination von Nah- und Fernsichten, Doppel- und Mehrfach-überlagerungen, Spiegelungen, offenen Räumen und Einzelelementen, Wintersonne und Sommerleuchten entwickelte sie eine neue, der Realität entrückte, vom Erleben in die Erinnerung und die Phantasie transferierte Vision in Gelb.

Gänseblümchen sind da mit einem Mal nicht mehr erdgebunden, sondern wachsen aus der transparenten Hülle zum Himmel hin, neigen sich, von links bedrängt, zum rechten Rand. Der Stil einer Kirschblüte dringt da in in vielfacher Vergrösserung in die sphärische Idylle ein, verbindet verschieden Bildteile, verhindert Verharren,  betont Bewegung. Erotisches klingt an und verdoppelt sich in  den überlagerten Makroaufnahmen auf Figurhöhe. Wie von selbst erinnern die Gänseblümchen hier an die Krönchen, Hals- und Armkettchen wie wir sie einst aus „Margritli“ geknüpft haben, um uns damit einer Braut gleich zu schmücken. „Venushochzwei“ nennt Lafargue die Bildwelt auf ihrem Bildschirm in dieser Zeit.

Bei einem Kunst am Bau-Projekt verbinden sich immer mehrere Ebenen. Die künstlerischen Aspekte müssen in Einklang mit den architektonischen Gegebenheiten stehen, aber auch den funktionalen und sozialen Komponenten in einem Gebäude gerecht werden, vor allem dann, wenn die Kunst mitten in den Arbeitsbereich von Angestellten und den öffentlichen Raum für Kunden zu stehen kommt.

Verena Lafargue hatte im Fall des Gebäudes am Bahnhofplatz das Glück, dass ihr kubische Architekturformen innerhalb bestehender Räume vertraut waren. In ihrem loftähnlichen Atelier an der Jakob-Stämpfli-Strasse Nr. 6 in Biel gibt es nämlich einen ähnlichen Raumwürfel, den sie seit langem als Bilder-Wand nutzt. Diese Vertrautheit führte sie 2006 im Rahmen der Ausstellung „Paul Klee und das Textile“ zur Idee, den kubischen Raum im Raum innerhalb des  Kindermuseums „Creaviva“ im Zentrum Paul Klee in Bern mit einer Foto-Tapete zu verkleiden und zu einem Bilder-Würfel zu machen. Dieses Konzept konnte sie in der Folge für die vergleichbare, wenn auch wesentlich komplexere Situation der Raiffeisenbank stockwerkübergreifend weiter entwickeln.

Markantestes Moment der Wechselwirkung künstlerischer und konzeptioneller Aspekte ist die gelbe Farbe, welche zugleich die Bild- wie die Raumatmosphäre bestimmt. Zwar sind es bei genauem Hinsehen eine Vielzahl verschiedener Gelb, die sich in Überlagerungen verdunkeln und in transparenten Zonen bis an die Grenze von Weiss auflösen, da und dort auch feine Rot- und Blautöne miteinschliessen, doch der Gesamteindruck ist „Sonne“, was als Ausstrahlung das Raum- und Arbeits-Klima, ja selbst die Empfindung der vom Bahnhofplatz ins Innere des Gebäude Schauen mitbestimmen soll.

Weitere Parameter, die sich inhaltlich und formal vernetzen müssen, sind  zum einen die sich über mehrere Seiten hinweg in der Horizontalen entwickelnden Flächen im Parterre und in der ersten Etage, zum andern die über zwei Stockwerke durch-gehend sichtbare Vertikale im nach Innen gewendeten Bereich des Raumes. Für Lafargue ist diese Situation, abgesehen von grossen, technischen Herausforderun-gen, geradezu ideal, kann sie dem „luftruum“ vom Grossen Moos – dem Fokus ihrer gesamten Arbeit – damit in der inhaltlich essentiellen Vertikalen mit 10 Metern Höhe eine schiergar unendliche Dimension geben. Und gleichzeitig das „Romantisch“-Aufstrebende und das in der Waagrechten der Erde und dem Irdischen Zugeordnete spannungsvoll in Wechselwirkung stellen.

Genauer betrachtet sind die umlaufenden Bänder nämlich keineswegs nur Idyllen in Gelb. So bringt es die spiegelbildliche Verdoppelung der liegenden Lufthülle im Parterre mit sich, dass die „Bräute“ im Innern gleichzeitig nach links wie nach rechts eilen, als wollten sie vor der Strahlkraft der überdimensionierten, intensivst gelben Löwenzahn(!)-Blüte auf der vorgelagerten Bildebene fliehen.

Im oberen Stock verkrallen sich die Lufthüllen regelrecht ineinander und die durch die Schichten hindurch kaum sichtbaren Figuren scheinen an ihren Hüllen zu ziehen und zu zerren und dies nicht in dieselbe Richtung! Das Ereignis in diesem Bildbereich ist jedoch die sich, von einem eiförmigen Lichtimpuls animiert,  im Krebsgang aus der wilden Zone lösende Riesen-Kirschblüte, die den monochrom-gelben, die aufragende Architektur betonenden Streifen durchbohrt, um sich, welchem Trieb auch immer folgend, mit der Sphäre von Sehnsucht und Traum, von der Einheit von Körper, Seele und Geist  in der grossen Vertikalen zu verbinden; noch immer heisst die Arbeit „venushochzwei“.

Verena Lafargue arbeitet auf der inhaltlichen Ebene nicht konzeptuell, das heisst die Bildverknüpfungen des „luftruum“ wuchsen aus einer rational nicht fassbaren Vorstellungswelt heraus, in welcher wir seelische Empfindungen mit unserem Bildspeicher oder Teilen davon verknüpfen. Es ist die Gabe von Kunstschaffenden, dass sie solcher Art Luft- oder Traum-Bilder zu fassen und – nun das künstlerische Bewusstsein voll einsetzend – visuell zu gestalten wissen.

Der gelbe Kubus ist ohne Zweifel das Highlight des Kunst am Bau-Projektes für den Hauptsitz der Raiffeisenbank in Biel. Doch er wird nicht zuletzt in Wert gesetzt  durch die Verbindung mit weiteren Arbeiten, welche den Bezug zum Kunstschaffen von Verena Lafargue aufzeigen. So führen die zwanzig A3-grossen auf Aluminium aufgezogenen Performance-Fotografien, die sich wie „Tropfen“ auf den Wänden des Gebäudes festgesetzt  haben, die Bildwelt des Kubus auf die Real-Ebene künstlerischer Produktion zurück. Es sind wiederum in Zusammenarbeit mit Sandra Dominica Sutter und Katharina Vogel im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter in einem Baumgarten in Gerolfingen, auf der kleinen Insel beim Einfluss des Hagneck-Kanals in den Bielersee, in Cressier und im Bözingenmoos respektive in der Umgebung von Prés d’Orvin  entstandene Fotografien. Im Kontext verfolgen sie klar ein Ziel: Sie sollen und wollen zum Ausdruck bringen, dass wir Menschen nicht nur aus Fleisch und Blut bestehen, sondern wo und wann auch immer mit unserem „hoheitlichen“ Luftraum durchs Leben gehen und darin Fähigkeiten der Wahrnehmung, des Austauschs und des Erlebens haben, die weit über den materiellen Körper hinaus gehen. Es sind Aufnahmen, die von Lust und Spiel und Poesie beflügelt sind.

Auf einer zweiten Ebene sind sie aber auch Erweiterung des Kubus in räumlichem Sinn, binden die Architektur als Ganzes in die Gedankenwelt des „luftruum“ ein, somit auch die Menschen, die in diesem Gebäude arbeiten, die als Kunden ein- und ausgehen. Dass wohl viele von ihnen mit der Geographie der Fotos vertraut sind, schafft zusätzliche Beziehung.
Sind die „Tropfen“ die Verbindung des Visionären mit dem Alltäglichen, so sind die Foto-Leuchtkästen in der Cafeteria quasi das Entgegengesetzte. Sie treiben die in der Bildschirm-Arbeit für den Kubus austarierte Balance zwischen Gegenständlich-keit und Abstraktion in Richtung Auflösung voran, fragmentieren, zoomen heran und lösen gleichzeitig auf, tauchen in Farbe, übersetzen Frühling, Sommer, Herbst und Winter in Klänge und das Sein darin in eine Ebene, die Diesseits und Jenseits nicht als Gegensätze begreift.
Nicht zuletzt in dieser wunderschönen Ganzheitlichkeit liegt die Qualität der bedeutendsten Arbeit im bisherigen Oeuvre von Verena Lafargue Rimann.