Utopics – 11. Schweizer Plastikausstellung in Biel 2009_2

So ein grosser Luginbühl wär doch schön!

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 25. Sept. 09

Die Bieler „Utopics“ macht Bauchweh. Weil der Skulpturbegriff strapaziert wird. Doch ungesicherte Kunst wurde schon immer erst im Nachhinein als wertvoll erkannt. Versuch einer Klärung.

Ach, so eine Riesenskulptur von Bernhard Luginbühl wär doch schön mitten in der Stadt“, sagt eine Kollegin. Vermutlich sind restlos alle Besuchenden der Bieler Plastikausstellung ihr einverstanden. Doch Luginbühl brachte den „Atlas“ schon 1970 nach Biel. Darum hat er 2009 an einer Skulpturenausstellung, welche die heutige Situation von Kunst im öffentlichen Raum untersucht, nichts zu bestellen. Es ist unser Vertrautsein mit den monumentalen Plastiken der Zeit vor bald 40 Jahren, das den Wunsch nährt. Damals löste der „Schrotthaufen“ des Emmentalers  nicht eitel Zustimmung aus. Unser Empfinden hat sich gewandelt.

Welche Arbeit unter den 50 Positionen, die sich zur Zeit in die Stadt eingenistet haben, ist denn nun 2009 die „fortschrittlichste“? Sicher nicht die Treppe und die Türe von Lang/Baumann aus Burgdorf, die vom Kongresshausturm in den nur fiktiv begehbaren Luft-Raum führen. Ihr Projekt ist nur gerade ein „Zückerchen“ für unsere nach „Skulptur“ lechzende Vorstellung von Plastikausstellung. Man kann das daran ablesen, dass die orangefarbenen Kletter-Halterungen, die Ulrike Gruber 2000 anlässlich von „Transfert“ am selben Ort montierte, bereits eine ähnliche Inhaltlichkeit vorformulierte.

Die bezüglich „zeitgenössisch“ wichtigste Arbeit ist möglicherweise jene von Holger Friese und Mona Jas (Berlin). Es ist der Beitrag, den die wenigsten Leute gesehen haben werden, denn das Video, das die beiden von Gesprächen in Coiffeursalons in Bieler Multikulti-Quartieren gedreht haben, ist nur auf einem Laptop oder auf dem iphone im öffentlich zugänglichen WLAN-Bereich in der Bahnhofstrasse einsehbar und auch dies nur nach einer Registrierung und nur einmal. Und obendrein nur wenn man Glück hat und der eigene PC mit dem System kompatibel ist.

Warum ist dieses Werk wichtig? Weil es die Zukunft vorwegnimmt. Bald wird öffentlicher Internetzugang in den Städten gang und gäbe sein. Und die meisten werden ein iphone oder ähnlich in der Tasche haben. Das heisst, dass surfen zum Alltag gehören wird wie heute telefonieren. Die visuelle Kunst hat technische Entwicklungen stets integriert – man denke an die Video-Kunst nach dem Aufkommen erster Hand-Kameras. So springt sie auch auf diesen Zug auf, vielleicht bisher nie so konsequent wie in „Stadtgespräch“ von Friese/Jas, das überdies das Urbane, wie es die Menschen erleben, auch auf inhaltlicher Ebene spiegelt. Das macht im Doppelpack die Qualität der Arbeit aus, auch wenn sie noch Kinderkrank-heiten hat; so ist es im Stadtlärm kaum möglich, die gesprochen Worte zu verstehen. Ist es eine „Skulptur“? Vielleicht, Kunst im öffentlichen Raum sicher.

Der beste Botschafter von „Utopics“ ist Parzifal. Täglich ist der „Grüne“ mit seinem Velomobil unterwegs, lacht, winkt, diskutiert da, trinkt dort mit jemandem ein Bier und erklärt zum tausendsten Mal, dass Esperanto eine Sprache für den Frieden wäre. Esperanto? Ein Beispiel vom Tischset, auf dem man in der Rotonde (und andernorts) Essen serviert erhält: Es geht um eine Zeitungsnotiz, wonach eine Dreijährige in Nepal zur Göttin erklärt wurde. „Im Palast macht sie was sie will“ steht da und das wird zu „En la Palaco, si faras kion si volas“.

Parzifal ist aber auch ein Beispiel für die aktuelle Situation der Kunst, die im Bereich der „Kuratoren-Kunst“ (im Gegensatz zur Kunstmarkt-Kunst) immer weniger Werk-Charakter hat, sondern immer mehr einer Lebens-Haltung, einer temporären Aktion, einem „Second Life“, einem Netzwerk, einer mentalen „Nation“ entspricht. Mit der Problematik, dass in einer „Ausstellung“ nur Zeichen, wie Flaggen (Fabrice Gygi, Rian Gander) Logos (Peter Coffin) oder Verweise, wie das Werbeplakat für die digitale „rmbcity“ von Cia Fei, gesetzt werden können, während die Essenz sich entweder in einem sozialen oder politischen Kontext oder im World Wide Web abspielt oder nur als Konzept existiert. Im Vergleich zur ähnlich prozesshaften „Fluxus-Zeit“ der 1960/70er-Jahre – in Biel durch Robert Filliou vertreten – ist die heutige Tendenz öffentlichkeitsorientierter, aber wie weit solcherart Kunst in einer „Ausstellung“ gezeigt werden kann, ist fraglich und erklärt die latente Frustration der „Utopics“-Besuchenden.

Allerdings gibt es mehr zu sehen als man denkt. Köstlich und ein Spiegel für die Situation ist das Video in der Talstation der Magglingen-Bahn von Clemens von Wedemeyer und der Basler Hochschule. Studenten (darunter der Nidauer Patrick Harter) erarbeiten Projekte, in der Stadt, im Wald; auf einmal sind sie verschwunden. Ein Helikopter überfliegt die Gegend, Suchequipen finden Spuren; doch die Existenz der Künstler hat sich aufgelöst. Näher am Thema von Utopics ist die Power-Point Präsentation von Andrea Zittel, die in einem Hotel-Zimmer des „Mercure“ serviert  wird.  Es geht darin um „Living Units“ – mobile Wohneinheiten, mit denen Freunde der Künstlerin in der Halbwüste Kaliforniens minimale Lebensfreiheit erprobt haben. Eindrücklich ist hier und vielerorten, wie präzise die Orte gewählt wurden. Wohnen trifft bei Zittel auf Wohnen, Werbung für den Besuch der „République du Saugeais“ findet man im Reisebüro usw. „Skulptur“ ist somit als punktuelle Einheit von Stadtleben und Intervention zu verstehen.

Der Katalog

Neben dem Kurzführer ist ein Buch zu Utopics erschienen.

Auf gut 150 Seiten werden von A bis Z Begriffe, Künstler, Projekte vorgestellt, erklärt, in Zusammenhänge über Utopics hinaus gestellt.

Das Buch ist in englischer Sprache publiziert.

Leider enthält es, weil zur Vernissage erschienen, keine Bilder der aktuellen Ausstellung.