Arkhologaia – Archäologie in der Kunst Centre Pasquart 2011

Keine Eulen nach Athen getragen

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 10. September 2011

Mit „Arkhaiologia – Archäologie in der zeitgenössischen Kunst“ eröffnet Dolores Denaro heute das Schlussbouquet ihrer Tätigkeit am Centre Pasquart in Biel: Die 10te internationale Themenausstellung.

Das Spannendste an „Arkhaiologia“ ist das Thema selbst. Warum greifen so viele Kunstschaffende die Methodik der Archäologie auf?  Das 1990/91 von Anne & Patrick Poirier geschaffene Architektur-Modell „Mnemosyne“, welche das Foyer des Pasquart raumgreifend besetzt, zeigt es in faszinierender Weise auf. Die  wie ein „Forum Romanum“ gebaute Stätte ist  in der Vision des berühmten französischen Künstlerpaares eine Hirn-Landschaft. An den Längspolen befindet sich das bewusste und das unbewusste Universum; rechts und links das virtuelle und poetische respektive reale und physische Universum. Und darin  sind Felder mit Bezeichnungen wie „Lost paradise“, „Unaccessable Anteriortiy“ oder auch „Desire of Infinity“. Mit anderen Worten: Die Archäologie entspricht dem urmenschlichen Bedürfnis, die Begrenztheit der eigenen Zeit und der eigenen Wahrnehmung von Welt zu erweitern. Denn ohne dass wir bewusst Zugriff darauf hätten, ist in unseren Genen die gesamte Menschheitserinnerung eingelagert.

Diesen eingeschriebenen Wunsch – vielleicht erstmals überhaupt –  mit Werken zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen zu illustrieren, ist nicht nur spannend, sondern darüber hinaus in hohem Masse Erkenntnis bringend. Dolores Denaro trägt keine Eulen nach Athen, sondern regt  mit ihrer streckenweise geradezu populären Ausstellung mannigfaltiges Nachdenken an. 


Dass Kunstschaffende dabei vor allem die virtuellen und poetischen Zonen unserer Denkfähigkeit reizen, liegt auf der Hand. Am spektakulärsten tut dies ohne Zweifel Simon Fujiwara (geb. 1982). Ein ganzes Team von Fachleuten und Helfern hat während fast zwei Wochen die „Frozen City“ (2010) des zwischen Literatur, Theater und Geschichte Agierenden in der Salle Poma reinszeniert. Ein Highlight! Zu sehen ist  die fiktive Ausgrabungsstätte einer römischen Stadt, die – so behauptet der englisch-japanische Shooting Star – unter dem Regent Park in London entdeckt worden ist und ebenso ein Bordell, einen Künstlermarkt, ein Kannibalen-Café und mehr beinhaltet. Die Pointe (auf einer der erklärenden Tafeln zu lesen): Die Stadt sei schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt, doch zu Zeiten Königin Victorias in Eile wieder zugedeckt worden, weil „zu gefährlich für die Moral des englischen Volkes“.

Die Spannweite der rund 30 künstlerischen Positionen ist beabsichtigermassen weit. Von den Extremen her formuliert reicht sie von der „schnodrigen“, aber nichts-destotrotz hintersinnigen Installation  von Daniel Richter  und Jonathan Meese, die 2009 als künstlerische Intervention anlässlich der Freilegung eines Bischofsgrabes in der Hansestadt Stade entstand und – am anderen Ende der Skala –  die unendlich feinen Alabasterreliefs der Bieler Künstlerin Béatrice Gysin, die sich unter dem Stichwort „Archäologie der Zukunft“ fragt, ob es einst, wenn das Weiss fehlen wird, noch eine Erinnerung an die Stille fallenden Schnees geben werde? Erstere notieren dazu auf zwei hingeklecksten Totenporträts: „Grabt und findet“, verweisen aber auch auf „Die Peitsche der Erinnerung“.

Wem was mehr unter die Haut geht, ist wohl sehr verschieden. Klar ist aber: Es ist eine sehr emotionale Ausstellung, weil sie einen weitreichenden kollektiven Untergrund hat. Um daran zu rühren muss nicht zwingend die Antike heraufbeschworen werden. Es reicht, wenn Heinrich Gartentor (Thun) den kleinen verrosteten Fiat 500, den er aus dem Autofriedhof von Kaufdorf gerettet hat, vors Pasquart stellt und in einem Kabinett das von ihm realisierte Gürbetaler Kunstereignis von 2008 in Form von romantischen Videos Revue passieren lässt.

Es ist sehr wohl möglich, dass die Fachwelt monieren wird, die Ausstellung sei selbst ein archäologisches Unterfangen, indem sie lauter bestehende Werke zusammenziehe und man mit Ausnahme der für heute Abend angesagten Performances von Ruedy Schwyn und in der „Frozen City“ keine unmittelbare Beteiligung von Künstlern spüre. Tatsächlich gibt es nur eine wirkliche „Neuheit“: 1983 vergrub Daniel Spörri  nach einem opulenten Bankett sein letztes „Tableau piège“ in der in der Nähe von Paris; wohl um sich selbst vom „Markenzeichen“ der konservierten Esstische zu befreien. 2010 sind die Artefakte – Teller, Gläser, Aschenbecher, Flaschen, Besteck etc. von Archäologen wieder ausgegraben, feinsäuberlich in Plastiksäcken archiviert  und entsprechend beschrieben worden; als eine Art Lehrbeispiel. Erstmals sind die nun zu archäologischen Artefakten mutierten Bestandteile öffentlich zu sehen.

Es ist klar: Die Voraussetzungen für Dolores Denaros letzte Themenausstellung waren alles andere als einfach. Wegen des Unfalls der Direktorin verzögerte sich die Vorbereitung und alles musste in letzter Minute umgesetzt werden. Ob die „Déjà-Vus“ aus Sammlungen von hier und dort sowie die weniger überzeugenden Positionen mit mehr Musse hätten vermieden werden können? Vielleicht.

Bis 27. November 2011 

 

Tops und Flops

Thematisch besonders eindrücklich: Die Erinnerungsbefragungen von Sophie Calle respektive Young-Hee Hong, Ai Weiweis „Coca-Cola“-Vase, Beat Lipperts „Entführung der Nike von Samothrake“, Mark Dions Freiburger Fundstücke, Jörg Herolds Angriff auf rasseneinheitliche Schädel.

Kontextuell weniger überzeugend: die Kunstharz-Säule von Pablo Bronstein, die Leinwandmumie von Sabine Gross, das Knochenkleid von Jan Fabre, der Sterne-Schädel von Douglas Gordon, der Büchsen-Ring von Richard Long, die Land-Art-Zeichnungen von Robert Smithson,die Seifensammlung von Julia Steiner. Dazwischen: Die Werke von Giuseppe Gabellone, Pascal Häusermann, Kris Martin, Peter Volkart,  Claudius Weber, Nicole Wermers, Elizabeth Lennard, Hannah Külling, Karl-Heinz Appelt.

Unverhofft: die Begegnung mit „Couple passant“ von Eric Rondepierre aus der Serie „Moires“; eine Wiederaufbereitung corrodierter Fotonegative. Das Bild war 1999 Plakatmotiv der Bieler Fototage.                           

 

 

Bildlegenden:

Hervorragender Einstieg in die Ausstellung: Das „Mnemosyne“ (der griechischen Göttin des Gedächtnis) gewidmete Architekturmodell von Anne & Patrick Poirier (Ausschnitt). Bilder: azw

 

Highlight: Die unter den Boden verlegte „Frozen City“ von Simon Fujiwara in der Salle Poma. Im Bild: Das Haus der Mäzenin.