Gertrud Guyer Wyrsch (1920-2013)

Beckenried März 2014

Vernissage-Ansprache

Gehalten am 8. März 2014

Sehr geehrte Damen und Herren

Es ist mir eine grosse Ehre, hier und heute eine paar Gedanken zu den von Urs Sibler ausgewählten Werken aus dem Schaffen der im vergangenen Herbst verstorbenen Gertrud Guyer Wyrsch zu äussern. „Ehre“, weil es eine kleine Geschichte dazu gibt. Es ist rund ein Jahr her, dass mir Gertrud Guyer telefonierte und mir sagte, sie sei eingeladen in der „Ermitage“ in Beckenried Werke zu zeigen und ob ich an der Vernissage sprechen würde. Ich schmunzelte und dachte bei mir selbst: Eine Frau, die im Alter von 93 Jahren Pläne für einen Anlass macht, der ein Jahr später stattfinden soll, das ist doch wunderbar. Ich sagte zu, wohl wissend, dass es dann eventuell eine Hommage an eine Künstlerin sein würde, die da und nicht mehr da sein würde.  Das ist jetzt so und ich höre Gertrud gleichsam, die lacht und denkt: „Hab ich gut gemacht“.

Den Nachdruck spürend, mit welchem sie wollte, dass ich hier spreche – es hätte hundert andere Möglichkeiten gegeben – das hat mich dann schon noch beschäftigt. Was habe ich anderen zuvor, was ist es, dass nur ich sagen kann, was nur ich so zu machen pflege. Vielleicht ist es meine Tugend – oder Untugend – dass ich Leben und Werk gerne verknüpfe. Das habe ich auch im Rahmen des Textes gemacht, den ich nach intensiven Gesprächen mit Gertrud für die 2010 vom Nidwaldner Museum in Stans herausgegebene Publikation geschrieben habe. Ich wollte wissen wie und wieso dieses Mädchen Künstlerin wurde, wer sie gefördert, wer gebremst, wer Wege gewiesen, wer Schranken gesetzt hat  und wie es zu diesem Durchbruch im Alter von gut 70 Jahren kommen konnte. Es war ungemein spannend. 

Das Wichtigste, das mir als Parallele auffiel, waren einerseits die vielen Wohnortwechsel von Gersau nach München, von München nach Bern, nach Rom, nach Florenz und zurück nach Bern, aber  mit der ersten Vespa schon wieder auf und davon. Und so ging es weiter von Bern über mehrere Zwischenstationen nach Kilchberg bis dann schliesslich mit Bern und Stans ein etwas ruhigeres Zwei-Standorte-Leben begann.

Ungefähr gleich viele Kapitel wie Wohnorte findet man auch im künstlerischen Werk von Gertrud Guyer. Nicht immer, aber häufig haben Wohnortwechsel Neues ausgelöst oder eine Werkgruppe hat aus sonstigen Gründen einen Abschluss gefunden, um neue Türen anderswohin zu öffnen. Da war stets eine Freiheit, zu neuen Ufern aufzubrechen.

Wenn sie jetzt hier in die Runde schauen und Kapitel zu zählen beginnen, so finden Sie deren fünf, vielleicht sechs – je nachdem wie weit man ein Kapitel fasst. Aber klar ist – es sind lange nicht alle – es ist ein Ausschnitt aus ihrem Schaffen hier versammelt. Werke, die in drei Ateliers entstanden – in Kilchberg die ältesten, in Bern die folgenden und spätere, in Stans respektive dann auch in Metallwerkstätten Nidwaldens die jüngsten. Was entscheidend ist dabei – und das kann man hier gut sehen – dass neue Kapitel nie einen radikalen Bruch mit Vorausgegangenem bedeuteten, sondern immer ein neu Ansetzen waren mitsamt allen zuvor gemachten Erfahrungen, mitsamt aller bisherigen Erkenntnisse, sowohl was Techniken anbetrifft wie Formen und Inhalte. Wobei  das Kommen und Gehen nicht linear sein musste; Gertrud Guyer hat es auch nie notiert oder bewusst reflektiert, sondern – ähnlich wie die Endlosschlaufen ineinander verwoben, intuitiv zu neuen Bildern und skulpturalen Formen geführt.

Lassen Sie mich konkret werden. Als Gertrud und Diego Wyrsch mit ihrer 10-jährigen Tochter 1970 nach Kilchberg ziehen, bieten sich der Künstlerin bezüglich Raumsituation und Werkstatt neue Möglichkeiten und Gertrud Guyer will sie nach Jahren reduzierter Kunsttätigkeit nutzen. Das Holz und die Stichsäge, die nun anstelle von Bleistift und Papier respektive Pinsel und Leinwand ins Spiel kommen, drücken es aus. Wichtiger ist aber die Integration ihres Schaffens ins breite Feld der damals in und um Zürich dominanten zweiten Generation der Zürcher Konkreten. Gertrud Guyer hat sich zeitlebens wohl gefühlt mit den zweiten Generationen; sie war nie eine Pionierin im engeren Sinn des Wortes, sie war eine Schwimmerin – ich komme noch darauf zurück – nahm alles erst mal auf, befühlte es und brachte es schliesslich so in Form, dass Eigenes und Neues und Drittes zu ihrem Ausdruck wurde. Das in die neue Geometrie Mitgebrachte in diesen Kilchberger Reliefs sind einerseits  lineare Momente wie wir sie als Linien bis zurück zum „Wagenlenker“ von 1955 finden, aber auch Zwischenräume wie es sie auch in Kompositionen mit  einzelnen malerischen Flächen aus den späten 50er-Jahren gibt oder auch beides miteinander, fast wie in einem Ausschnitt aus einem Stillleben der selben Zeit. Aber dann ist da  – wir sind ja in den 1970er-Jahren – nicht zuletzt auch ein Schuss Pop Art, ein Schuss jener typischen, puzzleartigen 60er-Jahr-Formen. Da spiegelt sich die im Zeichen des Fisches Geborene, die sich geschickt durch die Gewässer der Zeit bewegt. Und dann ist sie 1975 zurück in Bern. Da haben die Künstler mit Geometrie wenig am Hut. Ihnen steht in den 1970er-Jahren der Sinn unter anderem nach einem erzählerischen und oft sehr persönlichen Neo-Surrealismus. Gertrud Guyer, mit Bern seit ihrer Ausbildung bei Max von Mühlenen bestens vertraut, sucht wieder den Anschluss an das, was sie in der Szene spürt. Sie findet über Radierkurse bei Hansjörg Brunner zur einer gegenständlich-ungegenständlichen Erzählweise, die geradezu programmatisch vorwegnimmt, was die Zukunft bringen wird und zugleich und erstmals das seit den 1940er-Jahren gepflegte, gegenständliche Zeichnen in der Natur integriert.  

Ausdruck davon ist hier in der Ausstellung die Reihe der nun sehr viel stärker an Naturformen – wenn wir genau schauen aber auch Figürliches zeigenden Reliefs, die – meines Wissens – noch nie so zahlreich gezeigt wurden. Sie stammen alle aus den Beständen des Nachlasses; das heisst simpel einfach, es hat sie niemand gekauft. Man vergesse nicht, um 1980 ist Gertrud Guyer zwar 60 Jahre alt, aber noch eine völlig unbekannte Künstlerin, deren Werke kaum öffentlich gezeigt werden, geschweige denn gekauft würden. 1980, das ist zwar schon fünf Jahre nach dem „Jahr der Frau“ – aber in Bern hat das zu diesem Zeitpunkt noch fast niemand gemerkt. Und Gertrud Guyer war bis dato nirgendwo sesshaft gewesen, sodass sich auch keine Clientèle bilden konnte – ganz abgesehen davon, dass die Künstlerin auch gar noch nicht das Selbstbewusstsein hatte, sich selbst in den Vordergrund zu rücken. Wie sagte sie mir doch 2009: „Wenn ich irgendwo keinen Erfolg hatte, so dachte ich, meine Arbeit sei schlecht…Ich hatte viel zu wenig Selbstbewusstsein, um das als Diskriminierung einzustufen.“

Dennoch arbeitet die Zeit nun für Gertrud Guyer – in kleinen Schritten öffnen sich Möglichkeiten, da und dort findet sie Beachtung –bei ihr ging ja nie etwas „subito“ – wie ich schon sagte, war sie von ihrem Naturell her lieber zweite Generation – sie heiratete ja auch sehr spät und auch ihre Tochter kam – biologisch gesehen – spät zur Welt. Und so ist ihr später Erfolg gleichsam eine logische Folge davon.

1992 entstand der erste „Turm“ – der Urturm quasi. Wer nun denkt, dieses Kapitel widerspreche meiner Behauptung, es gebe keine „Brüche“ im Werk von Gertrud Guyer, der irrt sich. In den 1980er-Jahren waren unter anderem in Rahmen montierte, bewegliche Mobiles mit bemalten Naturfragmenten – kleinen Ästen vor allem – entstanden. Damit hatte sich die Künstlerin nach den Reliefs den Raum, aber auch Spiele mit Licht und Schatten zu Eigen gemacht. Das nimmt sie mit, wenn sie nun in die Architektur vordringt indem sie durchlässige Stockwerke in kubistisch anmutender Weise übereinanderschichtet.

Dass sie damit so viel Echo auslösen würde, ahnte sie nicht. Türme gab es in der Kunst schon lange –der russische Avantgardist Wladimir Tatlin hat vermutlich den berühmtesten geschaffen. Gertrud Guyer kannte diesen Spiralturm sicherlich von Abbildungen her, aber dachte ebenso sicherlich nicht daran als sie ihren „Urturm“ schuf. Aber die Rezeption, die nun auf diesen ersten und viele weitere Türme, reagiert, machte natürlich automatisch den Bogen und erkannte die Spannung zwischen der Referenz an die klassische Moderne und dieser sehr persönlichen Entwicklung, die bald einmal als Stationenweg ihres eigenen Lebens als Frau und Künstlerin erkannt wurde. Jedes Stockwerk ein Kapitel.

Die Anerkennung beflügelt Gertrud Guyer – sie weiss, sie hat nicht mehr endlos viel Zeit; sie ist schon über 70 Jahre alt. Darum jetzt: Nix wie los! Sie ist nicht die einzige Künstlerin, die sich das sagt – das führte teilweise zur Behauptung, ältere Frauen hätten ein ganz besonderes Potential. Ich glaube das nicht, sondern es scheint mir eingebettet in die gesellschaftliche Entwicklung des späten 20. Jahrhunderts, in welcher sich für Frauen – ob jung oder älter – neue Fenster öffneten.

Gertrud Guyer blieb nicht bei den Türmen stehen ihr folgen in relativ hoher Kadenz die Endlosschlaufen, die gleichsam zeigen, was ich hier schon mehrfach betonte: Alles ist mit allem vernetzt. Ich schmunzle auch zuweilen bei ihrem Anblick – die Technik hat nämlich etwas typisch Weibliches. Frauen sind sich vom Haushalt her gewohnt, stets vor neuen Situationen zu stehen, die es mit Fantasie und Sinn für das praktisch Mögliche zu bewältigen gilt. Und so ging auch Gertrud Guyer die technisch eigentlich sehr komplizierten Formen an, die sie oft einzeln schleifen musste, damit sie sich „Ihrer“ Form anpassten. High Tech sind sie nicht – das ist ja gerade das Schöne – sie sind in der Werkstatt geschaffen und Stück für Stück vorangetrieben. Wetten dass ein Mann da eine viel kompliziertere – zum Beispiel eine Laser-Technik – gesucht hätte, um dieselben Arbeiten perfekter, aber eben auch unpersönlicher zu gestalten.

Während ich die bisher erwähnten Arbeiten alle in der hier gezeigten oder in ähnlicher Form kannte, war ich bass erstaunt über die aufgebrochenen, sich gleichsam auf einem gemalten, farbigen Grund räkelnden Schlaufen mit teilweise radförmigen Konstellationen. Wie mir Diego Wyrsch sagte, sind sie hier zum ersten Mal ausgestellt. Mich faszinierte natürlich sofort die Verbindung mit früheren Werken – diesmal meine ich die Malerei und Zeichnung kombinierenden Arbeiten auf Bettlaken aus der Zeit um 1980. Auch damals bemalte Gertrud zuerst den Untergrund und entwarf dann auf diesen Farbwolken die aus einzelnen, kleinen Lineaturen bestehende, oft kartographische Komposition. Das ist hier anders und ähnlich.

Zum Schluss muss ich noch etwas einlösen, das mir ganz wichtig ist. Und das mich berührte als ich es letzten Montag, als ich ein erstes Mal hier war, realisierte. Gertrud hatte mir schon am Telefon seinerzeit gesagt, wie sehr sie sich freue auf diese Ausstellung hier und vor allem auch darauf, dass einige der grossen metallenen Türme im Garten aufgestellt würden, quasi mit Blick auf den See. Ich hatte das damals einfach zur Kenntnis genommen, doch dann wiederholte Diego genau diesen Satz am Montag –also muss das immer wieder Thema gewesen sein. Warum? Und dann sagt mir Diego auch, dass Gertrud einmal von hier aus über den See geschwommen sei und dass auf der anderen Seite Gersau liegen würde. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In Gersau ist Gertrud Guyer geboren. Ihr langes Leben durchlief in der Folge manche Schlaufe, doch in den letzten 30 Jahren wurde ihr die Stanser/Beckenrieder Seite des Sees immer mehr zur Heimat. Und wenn nun diese Türme da draussen stehen, hoch aufgerichtet und neben ihrem Sein als Architektur immer auch ein wenig Figur, so ist es als würden sie hinüberschauen, winken gar, und damit Geburt und Lebensreife, Lebensende miteinander verbinden. Das wusste Gertrud, auch wenn sie es vermutlich nie so formulierte.

Ich danke fürs Zuhören.