Als Stipendiatinnen im Atelierhaus Sciaredo in Barbengo (TI) zu Gast: Anke Zürn und Christiane Lenz aus Biel/Bienne – Herbst 2018

Eine Ausstellung von Anke Zürn hatte gezeigt: Die Bieler Künstlerin ist eine Alchemistin, verwandelt in der Natur Enthaltenes in „Gold“. Welch bessere Idee für die Wahl einer Stipendiatin des Vereins „Amici di Sciaredo“ könnte es geben?

(Jedes Jahr laden die „Freunde von Sciaredo“ einen Künstler/eine Künstlerin ein, einen Monat gratis in dem der Fondazione Sciaredo gehörenden Tessiner Haus zu verbringen.) 

Anke Zürn nahm die Einladung mit Freude an und befand sogleich, ein solche Chance wolle sie teilen; darum lud sie ihre Kollegin Christiane Lenz ein, die vier Wochen im naturumkreisten gelben Bauhaus-Kubus in Barbengo (TI) mit ihr zu teilen.

Beide entdeckten während ihres Aufenthaltes im Atelierhaus Sciaredo im Herbst 2018 neue Ausdrucksformen, wenn auch nicht auf Anhieb. Sie mussten erst die „Sprache“ des abgeschiedenen Ortes, die hier seit mehr als 80 Jahren gepflegten Dialoge zwischen Natur und Kunst hören lernen.

Wie viele KünstlerInnen vor ihnen stellten sie sehr schnell fest, dass sie die „falschen“ Utensilien mitgebracht hatten, dass die Basis für kreatives Schaffen vor Ort das „Nichts“ sein musste.

Anke Zürn begann mit ihrer kleinen Kamera das Substrat von Wald und Wiese zu durchforsten – das Mikrokosmische war der naturwissenschaftlich Ausgebildeten in ihrer Kunst schon immer näher als die Makrowelt. Im Photoprogramm ihres PC „wuchs“ ein virtueller Sciaredo-Boden.

Christiane Lenz ihrerseits spürte bald, dass der Pinsel viel zu weich war für diesen Ort, viel zu wenig Widerstand bot. Da stiess sie – es war die Zeit des Jahres dafür – auf die stachelige Schale einer Edel-Kastanie und erkannte für sich, dass sie das suchte: Stacheln. Wie malen Stacheln? Der Anfang des Sciaredo-Projektes war gefunden.

Der Wald rund um das 1932 auf einem felsigen Hügel erbaute Solitaire-Haus ist alt. Totholz gehört mit zum Charakter. Darum fand Anke Zürn trotz der Trockenheit zahlreiche Pilze. Schon seit ihrer Kindheit faszinierten sie diese seltsamen unter-irdischen und nur für kurze Zeit punktuell oberirdischen Ge-wächse. Wie konnte sie etwas von ihrem transformatorischen 

Geheimnis umsetzen? Sie kochte Kastanien-schalen aus und liess die Substanz in einem nass in nass ausgeführten Malprozess mit Tusche respektive dem verwendeten Papier interagieren. Und siehe da, die Pilze fingen an zu „leben“, in feinen Adern eine Art Myzelium zu bilden.

Ganz anders Christiane Lenz: Sie begann – nicht ohne Vorwissen aus ihrem bisherigen Kunstschaffen – weitere Stacheln, Borsten, Fasern, Haare und mehr zu „Pinseln“ zu bün

deln und sie auf ihre „Schrift“ hin zu befragen. Sie wollte nicht malen damit – wie es vor ihr zahlreiche KünstlerInnen taten – sondern die Natur-Pinsel selbst durch tupfen, wenden, kreisen „sprechen“ lassen, sei es vereinzelt oder – häufiger – in Serien, in rhythmischen Variationen. Hiezu verwendete sie – ihrer Vorliebe für die Beschaffenheit von Materialien entsprechend – trockene Tusche, die sie zuvor in einem rund 20 Minuten dauernden (Konzentrations)-Prozess angerieben hatte. Nur so konnte, ihrer Ansicht nach, eine Verbindung zwischen Pinsel und Malmittel entstehen.

Auch für Anke Zürn waren die Malmittel von grösster Bedeutung. Sie wusste, wenn sie eine Mischung gefunden hatte, die „funktionierte“, so musste sie schnell handeln – so entstanden auf den langen Tischen im Atelierraum in guten Momenten zahlreiche Blätter in kurzer Folge, um dann im Trocknungsprozess ihre inneren Energien zu „leben“ und zu zeigen. Als Basis dienten ihr die eigenen Fotos, doch das Ortsspezifische war nun nicht mehr wichtig, es ging um den „alchemistischen“ Prozess, der stellvertretend für die reale Natur zumindest in Ansätzen sichtbar macht, was sonst verborgen bleibt. Gleichzeitig sollten die Bilder – „endlich wieder einmal malen“! – die verschiedenen Stadien des jungen, des von Kleinlebewesen vielleicht schon halb gefressenen oder auch des bereits zerfallenden Pilzes in lustvoller Art und Weise sichtbar machen.

Christiane Lenz arbeitet seit jeher mit verschiedensten Materialien, tritt immer wieder als Objektkünstlerin in Erscheinung. So stehen auch in ihrem Sciaredo-Projekt die gemalten „Bilder“ in direktem Dialog mit den objekthaften und ganz auf die Eigen-schaften der Stacheln, Borsten, Fasern etc. ausgerichteten Pinseln. Nicht didaktisch, aber doch so weit, dass versteckte Zeichen die Identität respektive die „Zusammen-arbeit“ von Bild und Malwerkzeug jederzeit nachvollziehen lassen.

Die beiden Künstlerinnen arbeiteten nicht direkt zusammen; die eine schlug ihre Zelte im Atelierraum auf, die andere richtete im 1. Stock eine Arbeitssituation ein. Dennoch ist in ihren Projekten spürbar, dass Gespräche stattfanden, denn der Boden, der Wald, die Sträucher, die Gräser im Gebiet von Sciaredo und rund herum sind für beide „Nährboden“ – wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise. Mit grossem Vergnügen haben sie am Ende ihres Aufenthaltes den Boden des Wohnraumes zum gemeinsamen „Ausstellungsfeld“ gemacht und so ihre Projekte direkt in einen Dialog gestellt.

Beide sind sich einig: Der Aufenthalt in Sciaredo war in hohem Mass bereichernd für ihre künstlerische Entwicklung. In unauslöschlicher Erinnerung wird ihnen aber auch der ausserordentliche, von unzähligen Blitzen begleitete Sturm vom Abend des 26. Oktobers bleiben, der zahlreiche Bäume im Sciaredo-Wald packte, entwurzelte und umfallen liess – glücklicherweise ohne Schäden für das Haus.

 

Annelise Zwez, Januar 2019