Lorenz Olivier Schmid– «Noch hallen die Glocken des Campanile nach»

Text von Annelise Zwez nach Residenz-Aufenthalt in der Casa Sciaredo in Barbengo ob Lugano Herbst 2023

«Die Erfahrung, seit längerer Zeit auch ausserhalb des eigenen, vertrauten Ateliers tätig werden zu können, hatte etwas ungemein Befreiendes», schreibt der in der ehemaligen Papiermühle in der Klus ob Küttigen (AG) lebende Künstler Lorenz Olivier Schmid (*1982) nach seiner Stipendiatszeit in Sciaredo. Eigentlich plante er die Grossbildkamera mitzunehmen, damit ganz in die verborgenen Schichten der Natur einzutauchen und vor Ort eine Art Labor auf Zeit einzurichten. Doch wie so oft durchkreuzte Sciaredo die Pläne. Diesmal jedoch nicht die andere Sicht- und Vorgehensweisen fordernde Casa inmitten von Bäumen und wildem Unterholz, sondern die Hausordnung. Ein Fotolabor mit seinen spezifischen Chemikalien und eine Sickergrube für alle Abwässer  – nein, das hätte sich nicht vertragen, erkannte der umweltbewusste Künstler sogleich. Also drehte er seine Idee von gross auf klein – sehr klein sogar;  fast so wie er in seinem künstlerischen Schaffen Wahrnehmungen in umgekehrter Richtung so verwandelt, dass Mikrokosmen durch Vergrösserung bildbestimmende Erscheinungen werden.

Konkret: Er suchte im Internet nach dem kleinstmöglichen Drucker und fand ein handliches 7 x 15 x 5 respektive 11 cm grosses Thermodruckgerät, das einem Kassabon-Drucker gleich Daten aufnehmen, auf eine wärmesensible Papierrolle übertragen und ausdrucken kann. Ein Zackenrand erlaubt, den Bild-Bon abzutrennen und – zum Beispiel – mit einer Stecknadel an die Wand zu pinnen. Es war bereichernd bei der Präsentation im Sciaredo-Atelier zu erleben, wie sehr der Künstler selbst erstaunt und erfreut war, unverhofft wieder eine neue Methode der Bildwiedergabe in seinem Sinn gefunden zu haben.

Doch halt: Methode ist eines – Motivwahl das andere. Lorenz Olivier Schmid befasst sich seit langem – wie wir im Gespräch herausgefunden haben, seit seiner Kindheit – mit Spuren, Sedimenten von Zeitgeschichte. Diese können ebenso aus der Steinzeit stammen, eine auf einem Bilderrahmen-Glas verbliebene Staubschicht sein, verdunstendes Wasser und vieles mehr betreffen. Sichtbar machen was wir gemeinhin nicht oder über-sehen, ist der Fokus und sei es auch nur weil wir keine Lupe zur Hand haben oder einen Prozess nicht optisch zu bündeln vermögen.

Die Umgebung der Casa Sciaredo ist «wild» – vieles wächst kreuz und quer – für Lorenz Olivier Schmid war gerade das ein Fundus, in Kombination mit dem Licht von der Morgen- bis zur Abenddämmerung, mit den Einflüssen von Sonne, Wind und Regen. Er schaute nicht (oder nur selten) in die Weite – seine Schätze zeigen sich in der Nahsicht. Ein Blatt, das Insekten durchstochen haben, die Borsten einer Efeu-Baumwurzel, ein Käfer, der sich kaum von seiner Umgebung abhob, eine Kastanie in ihrem Stachelschutzkleid. Auch im Innenraum bot der sich auf Details konzentrierende Blick viele Überraschungen und das Wechselspiel von Innen und Aussen sowieso.

In Sciaredo kann man nicht ankommen und wie in einem Stadtatelier mit weissen Wänden straigth away loslegen mit dem, was man sich im Kopf zurecht gelegt hat. Lorenz Olivier Schmid begann mit messen. Er mass die Casa aus – die Räume, den Korridor, die Treppe – und fertigte ein Kartonmodell an. So verinnerlichte er die harmonischen Proportionen des 8 x 10 Meter grossen Kubus im Stil des Bauhauses, fühlte sich fortan in Sciaredo zuhause. Wie sagte doch die Erbauerin, Georgette Tenori-Klein, einst: «Dieses Haus ist ein Kleid, das zu mir passt».

Dieses Vorgehen mag auf den ersten Blick nicht logisch erscheinen für einen Fotografie als künstlerisches Medium nutzenden Künstler. Doch wer Lorenz Olivier Schmids Schaffen als Ganzes kennt, weiss, dass Handwerkliches, Dreidimensionales eine gleichwertige Bedeutung hat wie die Fotografie, sich bisher aber primär getrennt in den ausgefeilten Modellen für zahlreiche Kunst-am-Bau-Arbeiten, zeigte. «Als Gymnasiast wollte ich Instrumentenbauer werden», erzählt er. Nimmt man dann noch den Einfluss des Elternhauses mit einem Organisten/Pianisten als Vater und einer Violinistin als Mutter hinzu, kommt man empfindungsmässig vielleicht zu jenem Leitmotiv, das seine Klang-Objekte (in Kunst-am-Bau-Arbeiten) und seine feinziselierten Bild-Wahrnehmungs-Projekte stärker verbindet als die Oberfläche zunächst zeigt.

Dass der kleine Thermo-Drucker und die Qualität der Handy-Fotografien keine gestochen scharfen Bildresultate bringen, ist für Schmid nicht etwa ein Abstrich, im Gegenteil, die Qualität der Bilder betont den Spurencharakter mit den oft auch ihn selbst überraschenden Effekten wie sie sich aus der verwendeten Technik ergeben, wie sie viele Menschen von ihren unterschiedlichen Seh-Fähigkeiten her kennen. Die Unschärfe, oder besser noch die Schärfe der Unschärfe, ist ein immanenter Teil des Projektes.

Kaum ein Experiment verläuft ohne ständige Anpassungen. So galt es im vorliegenden Fall herauszufinden, wie sich die im Handel erhältlichen Thermodruck- -Rollen verhalten. Die ersten Drucke rollten sich schon nach kurzer Zeit ein, die zweiten, mit einer anderen Papierqualität, weniger, doch erste die dritte Rolle hielt, was der Künstler  sich von ihr erhoffte: Die Fotos blieben flach und schreiben nun in jederzeit variierbaren Kombinationen verschiedener Aspekte eine Vielzahl von Sciaredo-Geschichten.

Es bleibt die bange Frage nach der Haltbarkeit. Alte Kassabons – wir kennen es alle – verblassen in relativ kurzer Zeit, ähnlich wie seinerzeit die Kopien der alten Matrizendrucker. Schmid ist überzeugt, dass die Drucke bei gedämpftem Licht und hinter UV-resistentem Glas weit über die versprochene Zeit ihre Qualität behalten.

November 2023