Rosina Kuhn: Von der Feministin zur FEMS –Preisträgerin

Porträt der Künstlerin und der Edouard und Maurice Sandoz-Stiftung, 2003

1975 initiierte Rosina Kuhn (63) die Ausstellung „Frauen sehen Frauen“ – die erste ihrer Art in der Schweiz. Jetzt erhielt die „Porträtistin“ überraschend den hoch dotierten Preis der E. und M. Sandoz-Stiftung (FEMS).

Rosina Kuhns Vater hiess Adolf Funk. Der 1996 in Zürich verstorbene Maler aus Nidau ist heute praktisch vergessen, doch die Tochter trägt einiges mit. Nicht nur die Kindheits-Erinnerungen an den Onkel Hans im Nidauer „Sternen“ und den Läset bei Verwandten in Schafis. Adolf Funk nahm seine Tochter mit in den Louvre in Paris, die Uffizien in Florenz, die Museen Wiens, wies sie auf die Schichtung der Farben, die Führung des Pinsels, das Licht und die Formen. Kein Wunder, wollte die 1940 geborene, einzige Tochter Malerin werden, umso mehr als auch ihre Mutter, die heute 95-jährige Lissy Funk, eine bekannte (Textil)-Künstlerin war und ist.

Doch schon in den 60er-Jahren kommt die Rebellion – Rosina Kuhn wird nach einem ersten Amerika-Aufenthalt zu einer der ersten Schweizer Pop-Künstlerinnen. In der von ihr initiierten Ausstellung „Frauen sehen Frauen, eine gefühlvolle, eine gescheite, eine gefährliche Schau“ zeigt Rosina Kuhn indes das Porträt einer Frau, die an sich selbst leidet. Aufbruch, Depression und Aggression sind in dieser frühesten Phase (selbst)-bewussten Kunst Schaffens von Frauen nahe beieinander, oft gekoppelt mit Beziehungsproblemen.

Rosina Kuhn fängt sich bald wieder auf, denn nicht zuletzt aufgrund der Ausstellung im „Strauhof“ erhält sie das New York-Atelier der Stadt Zürich zugesprochen und saugt die Atmosphäre der pulsierenden Stadt ein. „Sie hat gepackt, was zu packen war“, schreibt der Kulturkritiker und Ex-Mann Christoph Kuhn im Katalog „West Broadway“ von 1977, … in den Gesichtern der Brüder Sadkowsky, in der Figur des amerikanisierten Ostjuden, in der ornamentalen Schönheit der mexikanischen Photographin, im harten Stolz des schwarzen Musikers, der Kraft und Klugheit des Filmers, der verbohrten Hartnäckigkeit der dilettierenden Dichterin und des ewig abstürzenden Clochard-Pianisten.“ Rosina Kuhn war und blieb eine aussergewöhnliche Porträtistin, auch wenn die Bilder zuweilen abstrakt waren oder – heute – die „Gesichter“ des „Sunset Boulevards“ in Los Angeles zeigen oder das zugleich tages- und jahres-zeitliche wie topographische Panorama von ihrem Tessiner Wohnsitz aus.

Wie viele Künstlerinnen ihrer Generation musste sich Rosina Kuhn oft gegen falsche Interpretationen wehren, umso mehr als sie als Malerin stets die Tradition im Rücken hatte. So stiessen ihre Mal-Performances der späten 70er Jahre (mit Irène Schweizer, La Lupa u.a.) und ihre fliessenden, vielfarbigen Grossformate zwar auf Interesse doch der formalistische Blick der (männlichen) Kunstgeschichte, sagte bald „abstrakter Expressionismus“ und „vorbei“ und übersah das „Porträt“ der Befreiung des Weiblichen.

Ein „Coup“ gelang der Künstlerin Mitte der 80er Jahre als sie binnen 14 Tagen 35 Rückenakte zeichnete (malte), die zum Schönsten gehören, was die Akt-Malerei in den letzten 30 Jahren hervorgebracht hat. Niemand zuvor hat so viele Lebensspuren mit solcher Innigkeit in weibliche Rücken gezeichnet (Kunsthaus Zürich, 1987). „Ich bin eine Sprinterin“, sagt Rosina Kuhn, „ich produziere oft monatelang Abfall und plötzlich stimmt alles zusammen“. Das gilt auch für die grosse Reihe der „klassischen“ Porträts (Kunstmuseum Olten 1995), die mal packen (etwa Isolde Schaad, Laure Wyss, Hugo Loetscher), mal weniger zu greifen vermögen (etwa Otto Stich, Ruth Dreifuss, Peter Killer). Und es gilt, nach Aussagen der Künstlerin, noch viel mehr für den nun endlich gelungenen „Sunset Boulevard“, der weltberühmte Strassenzug, der über eine Strecke von 70 km von der Innenstadt von Los Angeles vorbei an Hollywood und Beverly Hills hinunter ans Meer führt.

Rosina Kuhns 1970 geborener Sohn lebt seit fünf Jahren als Filmemacher in LA und einmal im Jahr besucht sie ihn. „Ich habe Tausende von Fotos gemacht, ich kenne die Gesichter des Boulevard – Schein und Sein – und doch vermochte ich erst vor einigen Monaten ‚loszulassen‘ und plötzlich 54 Aquarelle in Postkartenformat zu malen, die einem Film gleich vom Meer hinauf und von der Stadt hinunter ‚fahren'“. Später sagt sie in Bezug auf das Tessiner Panorama-Projekt „Nord – Süd – Ost – West“, das sie nun dank dem FEMS-Preis umsetzen kann, „es gelang mir einzusteigen als ich mich nicht mehr wehrte zu sehen, was zu sehen ist, das Idyllische und das Tatsächliche“. Das gilt zweifellos auch für den Sunset-Boulevard, der – wie immer bei Rosina Kuhn – nicht formal Erneuerung zeigt (stilistisch führt die Linie zurück zur Klee-Macke-Moillet-Reise nach Tunis) aber in der atmosphärischen Wiedergabe der „Fahrt“ durch eine der „verrücktesten Strassen der Welt“ (R.K.) besonderen Ausdruck findet. Der auch in einem parallelen Film, der die Künstlerin im offenen Wagen die Strasse entlang fahrend zeigt, gespiegelt ist.

Die Fondation Sandoz
Teil der breit gefächerten Basler Sandoz-Stiftung ist die in Pully bei Lausanne domizilierte Familienstiftung von Maurice und Edouard Sandoz. Diese vergibt seit 1996 jährlich einen der höchstdotierten Kulturpreise der Schweiz. Die 100’000 Franken gehen wechselweise an bildnerisch respektive literarisch-musikalisch Tätige. Entsprechend den Wirkungsfeldern der beiden Brüder, deren Nachlässe zu verwalten die Hauptaufgabe der Stiftung ist. Weder Edouard-Marcel Sandoz, der Maler und Bildhauer (1881-1971), noch Maurice-Yves Sandoz, der sich den Künsten widmende Weltreisende und Sammler (1882-1958) haben die Nachwelt bewegende Werke hinterlassen. Sie waren aussergewöhnliche Menschen in ihrer Zeit und haben ihr Erbe mäzenatisch der Kultur (und der eigenen Erinnerung) vermacht. Dieser Hintergrund und das bewusst autonome Vorgehen einer zwar um Experten erweiterten, dennoch aber nicht aus Fachleuten bestehenden Jury (entsprechend dem Stiftungsrat) haben bisher bewirkt, dass die Preistragenden selten zur bekannten Kulturszene zählten. 2000 ging die Auszeichnung an den Komponisten Xavier Dayer, 2001 an den Berner Bildhauer Urs Twell-mann und 2002 an den Schriftsteller Yves Rosset. Das bringt es mit sich, dass das Prestige des Preises noch immer nicht der Bedeutung der Ausschüttung entspricht. Die Stiftung ist auch nicht darauf aus; im Geist der Sandoz-Brüder tut sie das, was sie interessiert. Dieses unabhängig sein wollen, spiegelt sich partiell darin, dass die Jurierung in der ersten Runde anonym abläuft. Namen haben keine Zugkraft. Was zähle, sei die Qualität und die Originalität des eingereichten Projektes, kann man auf der Internetseite der Stiftung nachlesen. Wenn man sieht, dass dieses Jahr in der Endrunde, in der die Künstler ihre Projekte persönlich vorstellen, auch Namen wie Alois Lichtsteiner, Ladina Gaudenz, Jörg Niederberger und Christoph Rütimann waren, deutet indes an, dass der FEMS-Preis wohl bald vermehrt ins Blickfeld rücken wird.

Wie Kuhn den Preis gewann
Der FEMS-Preis 2003 war unter dem Thema Malerei und „Nouvelles paysages“ ausgeschrieben. Rosina Kuhn steckte mitten im Projekt „Sunset Boulevard“ als sie ein Freund auf die Ausschreibung aufmerksam machte und sagte: „Das ist das, was du machst“. Und so entwickelte sie das Projekt „Mendrisiotto“ und reichte es ein, in deutsch und französisch. „Seit ich in Los Angeles anfing, Autos anstelle von Menschen, Tankstellen, Malls, Baustellen anstelle von Pflanzen und wilder Natur zu malen, habe ich „Neue Landschaften“ mit anderen Augen zu sehen begonnen, nämlich als unsere heutige Welt, die es malerisch zu erobern gilt“ heisst es im handgeschriebenen(!) Konzept-Ringheft. Das ist nichts grundlegend Neues, doch in Kombination mit der Rundumsicht von dem ihr vertrauten Ferien-Wohnsitz im Südtessin aus, die zusätzlich die Tages- und Jahreszeiten integriert, bildete sich für die Jury, in der heuer als Auswärtige Paloma Picasso und der Maler Samuel Buri mitsprachen, das Versprechen für etwas Besonderes. So kam ihr Vorschlag, das Mendrisiotto in 12 Bildern à 180 x 260 cm in den Farben des Winters, des Frühlings, des Sommers und des Herbstes (entsprechend Nord, Ost, Süd und West) einzufangen, in die Endrunde. „Nie hätte ich das gedacht“, sagt sie. Wissend, dass die Präsentation französisch ablaufe, habe sie sich tagelang französischsprachige Hörspiele angehört, um in den Klang zu kommen, erzählte sie uns. „Sie war einfach fulminant und überzeugte alle“, meinte Jurymitglied Samuel Buri auf Anfrage. Natürlich sei ihr Alter diskutiert worden, sagte der 68-jährige Basler Maler, doch es sei beim subjektiven Ausspruch des Präsidenten (M. François Landolt) geblieben: „Elle est la plus jeune!“. Ende 2004 wird Rosina Kuhn das Resultat im Kunstmuseum Olten zeigen.