Sammlung Kunsthaus Grenchen_Neue Blicke 2011

Was Studierenden der Uni Bern „ins Auge fiel“

 www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 11. Februar 2011

Studierende der Universität Bern haben in der 13’000 Nummern umfassenden Sammlung des Kunsthaus Grenchen gestöbert. Was ihnen „Ins Auge gefallen“, ist nun eine Ausstellung.

Wer die Wahl hat, hat die Qual.  Das gilt für fast alle Sammlungsausstellungen, beim Kunsthaus Grenchen indes doppelt. Denn die frühe Festlegung auf (erschwingliche) Originalgrafik als Schwerpunkt, brachte es mit sich, dass die Sammlung zahlenmässig überproportional wuchs und heute sage und schreibe 13’000 Nummern umfasst. Etwa 90% davon sind Druckgrafiken von Albrecht Dürer über Franz Gertsch und  bis Andy Warhol.

Mit dem Anbau von 2008 wurde ein neues Depot erstellt, sodass die in Grafik-Schachteln aufbewahrten Blätter heute sinnvoll bewirtschaftet werden können, auch wenn das Inventar noch nicht heutigen Standards entspricht. Jedes Jahr wirft Direktorin Eva Inversini einen neuen Blick auf die immer wieder Überraschungen zutage fördernde Sammlung. Für dieses Jahr zeichnen allerdings primär 12 Studierende der Universität Bern verantwortlich. Unter der Leitung der Grafik-Spezialistin Bernadette Walter haben sie gesichtet, gewertet und was ihnen „ins Auge fiel“ in sechs Kapitel geordnet und zu einer Ausstellung gefügt.

Was bei Ihrer Wahl durchwegs überrascht, ist der relativ traditionelle Blick. Nicht das Neueste, Experimentellste fand primär ihre Aufmerksamkeit, sondern vielfach Älteres, der jungen Generation Unbekanntes. Dass sie nicht die Highlights herauspicken wollten, war zuvor vereinbart worden. Dennoch brauchte es ihren unverstellten Blick auf visuelle Besonderheiten, dass überraschende Kombinationen möglich wurden. So findet man zum Beispiel in Raum „Kurioses“ drei Blätter mit Frauendarstellungen, in denen die Haartracht ein „kurioses“ Gestaltungselement ist – das eine vom bekannten österreichischen Fantasten Ernst Fuchs, das zweite vom hochdotierten Erotik-Spezialisten Hans Bellmer und das dritte – ein Holzschnitt –  vom heute vergessenen Berner/Twanner Bildhauer Karl Hänny, der um 1915, ähnlich wie Hodler, nackten Frauenkörpern mittels langer Haare Bewegung verlieh. Welcher etablierte Kurator würde sich eine solche Kombination wagen?

Die sechs Kapitel bilden ein facettenreiches Ganzes, wenn auch ohne grosse Überraschungen. „Ins Licht gerückt“ heisst es da etwa oder „Über Geschichten gestolpert“ oder – gleich zu Beginn – „Auge in Auge“. Die Vielzahl von Porträts, die hier auf einer einzigen Wand versammelt sind, zeigt zum einen die stilistische Vielfalt des 20. Jahrhunderts von Hodler bis Disler, kehrt aber auch die Blickrichtung um – nicht nur wir schauen, wir werden auch angeschaut. Insgesamt sind mehr als 100 Künstler und Künstlerinnen in der Alt- und Neubau umfassenden Ausstellung vertreten. Da heisst es sich konzentrieren, um nicht nur Masse zu sehen, sondern persönliche Entdeckungen zu machen. Denn letzteres ist der Joker der Ausstellung. Wenn einem zum Beispiel unverhofft der junge Toni Brechbühl (einer der ältesten Galeristen der Schweiz) als junger Mann mit nacktem Oberkörper entgegenblickt, gezeichnet von der einst bekannten Fotorealistin Margrit Jäggli (1941-2003). Oder wenn man verblüfft der Qualität des geheimnisvollen männlich/weiblichen Porträts von Atsuno Sakazume aus Japan gewahr wird.

Gerade das grossformatige Blatt des Japaners macht bewusst, dass die Auswahl der Studierenden wohl etwas gar lokal-regional-national ausgefallen ist, denn durch die Verankerung der Sammlung in den Grenchner „Triennalen der Druckgrafik“ ist diese internationaler als es aktuell scheint. Dennoch gibt es auch innerschweizerisch qualitative Überraschungen; zum Beispiel die „Insomnia“ betitelten Blätter des Berners Jürg Straumann oder  – ganz  bielerisch lokal – graphit-dunkle, erzählerische Zeichnungen von Robert Schüll aus den 1980er-Jahren. Vielleicht wärmen durch die zeitliche Distanz aber auch plötzlich die „altmodischen“ Porträt-Zeichnungen des Grenchners Arthur Girard (1885-1962) wieder das Herz.

Ausstellung bis 10. April 2011. Mi-Sa 14-17, So 11-17 Uhr.

 

Das Kunsthaus Grenchen zeigt vier Ausstellungen pro Jahr.

Auf „Ins Auge gefallen“ folgt im Mai bis Juli  eine das ganze Haus umfassende Retrospektive Lilly Keller.

Die Themenausstellung im Herbst trägt den Titel „Die Sicht der Dinge“; sie befasst sich mit Konstruktionen von Wirklichkeit.

Den Abschluss bildet erneut „Impression“, die Ausstellung für aktuelle Druckgrafik aus der Region und – 2011 – Gästen aus den Regionen Graubünden, Tessin, Liechtenstein.

                                                                                                                       

Das Kunsthaus Grenchen ist schweizweit eines der kleinsten öffentlichen Museen. Museum, da sowohl Ausstellungen veranstaltet werden, wie eine rege Sammeltätigkeit stattfindet (siehe Haupttext). Trotz Minimal-Budget gelingt es dem Haus immer wieder überregional auf sich aufmerksam zu machen. Highlights waren etwa  die Retrospektive M.S. Bastian (2005), die Ausstellung Dominik Stauch (2008), die Präsentation der Bundeskunstsammlung (2009), die Themenausstellung „timeless“ (2010) sowie die Neukonzeption der Jahresausstellung „Impression“.

2008 war ein Meilenstein für das analog dem Centre Pasquart in Biel von einer Stiftung getragene, jedoch öffentlich subventionierte Haus: Die „Girard-Villa“ vis-à-vis des Bahnhofs, die seit 1984 als Museum dient,  konnte durch einen Anbau erweitert und die Technik erneuert werden. Geleitet wird das Haus seit 2008 von der jungen Berner Kunsthistorikerin Eva Inversini (70%-Pensum) und der Grenchner Kauffrau Daniela von Büren (50%-Pensum).

„Ich bin trotz ständigem Spardruck sehr glücklich darüber, was ich hier bisher verwirklichen konnte“, sagt Inversini, deren Vertrag bis Ende 2012 läuft. Die Besucherzahlen seien zufrieden stellend, aber „wir hätten gerne noch mehr“, sagt sie. Positiv entwickelte sich das ideenreiche Kunstvermittlungsprogramm, das von Roslinda Battiston mit getragen wird. Ihr ist es unter anderem zu verdanken, dass die Kurse der „Druckknöpfe“  demnächst doppelt geführt werden „müssen“.

Bildlegenden:

 

Die Besucher der Ausstellung „Ins Auge gefallen“ werden von 90 Augenpaaren auf Blättern von Hodler, Gertsch, Disler, Schmidt, Brus, Sakazume, Schindler, Brunner und vielen mehr empfangen. Foto: zvg

Entdeckung: Das fantastisch-erzählerische Blatt des Franzosen Erik Démazières, geb. 1948.

Einzelbild des Japaners Atsuno Sakazume