Silvia Hintermann

Fadenbruch 2014

Memento Mori für die Spinnerei Kunz in Windisch

www.annelisezwez.ch

Text von Annelise Zwez für die Publikation „Fadenbruch“ ( Verlag Zeitfluss, ISBN 978-3-033-04503-3)

1900: Aufregung im Maschinensaal der Spinnerei!  Schon wieder ein Fadenbruch! Es eilt! Die beiden losen Enden müssen wieder verbunden werden. Die Produktion muss laufen.

Die von Silvia Hintermann 2011/2012 in den still gelegten und geleerten Räumen der alten Spinnerei Windisch aufgenommenen Bilder in diesem Buch spiegeln das Thema des „Fadenbruchs“ – übertragen auf die Gegenwart. Bei vielen ist es als wäre ihnen das Wort „Ende“ eingeschrieben,  wie beim Abspann eines Filmes. Der Baggerzahn –man hört, man sieht  ihn schon –wird zerstören was jetzt noch ist.

Doch das ist nur einer unter mehreren Aspekten.

Einem Künstler (1) fiel im Rousseau-Jahr 2012 auf, dass der Zeiger der Bahnhof-Uhr in Ligerz (2) ungewöhnlich lange Halt macht, bevor er von der alten zur neuen Minute springt. So lange, dass es reicht einen kurzen Gedanken in die Nicht-Zeit zu schieben. So lud er zum Denken im Dazwischen. „Wie viel Zeilen haben wir… den Verlust aufzuhalten?“

Auch dieses „Bild“ hat ein Echo in den Fotografien der folgenden Seiten; denn sie halten gleichsam den Atem an zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Art und Weise wie sich Silvia Hintermann –respektive ihre Kamera –die Wände, die Böden und Decken, die Räume, die Nischen und Brüche, die Spuren einstiger Funktionen aneignet, hat nur ganz am Rand mit Dokumentation zu tun. Kaum ein Bild ist lokalisierbar.

Eine Künstlerin sagte einmal, sie wolle nicht die Landschaft abbilden, sondern das was sie gefühlt habe als sie die Landschaft betrachtete. Auch das ist ein Gleichnis für das vorliegende Buch. Die drei Aspekte zusammen charakterisieren Bilder, Inhalt und Ausdruck.

Um dahin zu gelangen braucht es Zeit. Nur im Verweilen, im Dasein, im „Gespräch“ mit einem Ort, mit einem Ding kann sich das Sichtbare aus seiner Definiertheit lösen, eine orangefarbene Wand zu strahlender Wärme zwischen gelb und rot werden, ein Bretterverschlag zum faszinierenden Rhythmus eindringenden Lichtes, der Knoten eines gerissenes Seils zum spielerischen Faserbündel. Silvia Hintermann hat Stunden, Tage in den Gebäuden verbracht, um zu finden, was erst Verbundenheit sichtbar macht.

Die Position, die Silvia Hintermann dabei einnimmt, ist nicht jene des  Kinderbuches „Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder“ (4), sie lässt sich viel eher mit „Memento mori“ einkreisen. Es ist Wehmut spürbar ob der Vergänglichkeit aller Dinge in ihrer Zeit, aber die Melancholie zeugt nicht einseitig von Trauer, sondern verströmt auch eine Art Vertrauen. Der „Fadenbruch“, so die Botschaft, ist einschneidend, doch die Epoche der Spinnerei ist zu Ende. Neues muss das Vergangene mit der Zukunft verbinden.

Diese integrative Haltung hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Fotografien in einer fortgeschrittenen Phase des örtlichen Wandels entstanden. Das heisst zu einem Zeitpunkt, da erste Etappen von Rück- und Neubauten, vom Industrieareal zur Wohnsiedlung, bereits positive Signale gesetzt und der Schutz einzelner alter Elemente die Versöhnung von alt und neu in die Wege geleitet haben.

Dies ermöglichte Silvia Hintermann die Ebene der realpolitischen Auseinandersetzung, die mit jedem Projekt dieser Grösse einhergeht, hinter sich zu lassen;  sich ganz  auf die „Nicht-Zeit“, die Zeit des Übergangs zu konzentrieren, in dem sich das Gewesene und das Zukünftige gegenseitig befruchten. So können für die Entsorgung zusammengeknautschte, blaue Bleche zu malerischen Reliefs werden, die Sparren eines halboffenen Estrichs im Wechsel mit eindringenden Lichtstrahlen zum dynamischen Spiel von innen und aussen.

Das wiederholte Verweilen machte die Künstlerin mit den Launen, aber auch den Offenbarungen des Lichtes  vertraut. So ist es keineswegs Zufall, wenn eine Maueröffnung in weichem Beigegrau den Blick auf eine „romantisch“ belichtete Landschaft freigibt (obwohl die scheinbaren Bergformationen In Tat und Wahrheit reines Abbruchmaterial sind). Oder Licht so auf ein Glasfenster fällt, dass sich nicht nur der Raum darin spiegelt, sondern über Ein- und Ausfallwinkel eine kaum mehr fassbare, virtuelle Dreidimensionalität einstellt.

Silvia Hintermann benutzt eine Digital-Kamera. Es wäre also ein Leichtes mit Photoshop-Tools die eine und andere Akzentuierung vorzunehmen. Doch das würde nach Ansicht der Künstlerin der Vision etwas festzuhalten, was schon fast nicht mehr ist, etwas, das im Moment der Aufnahme bereits Erinnerung ist, widersprechen. Darum verzichtete die Künstlerin weitestgehend darauf. Auch der Lust, mit Vorgefundenem Eigenes zu gestalten, widerstand sie – bis auf eine Ausnahme (welche?)

 

1  Angesprochen sind die „zwecklosen Wanderungen“ des holländischen Künstlers Fredie Beckmans, der von 2011 bis 2014 als „artist in residence“ im Atelier Robert in Biel/Bienne weilte und in dieser Zeit unter anderem eine Arbeit zu  Jean-Jacques Rousseau realisierte.
2  Von Ligerz am Bielersee setzt man über auf die Petersinsel, wo J.J. Rousseau 1765 einige Wochen weilte. 
3  Zitiert ist die Luzerner Künstlerin Marie-Theres Amici.
4 Titel eines Kinderbuches von Jörg Müller (Illustrationen) und Jörg Steiner (Text) aus dem Jahr 1973