Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose – 1997

Wann ist das eine das eine und das andere das andere?

Gedanken zum neueren Schaffen von Ruth Maria Obrist

Von Annelise Zwez

„Wo wird alles gleich?“ – Kein anderer Satz im langen Gespräch mit Ruth Maria Obristim Vorfeld dieses Textes trug im Klang so viel von dem, was die Künstlerin umtreibt. Wo wird die Vielfalt zur Einheit? Wann hält die Unruhe inne? Wo ist das Glücksmoment, das alles beinhaltet? Es mag überraschen, dass eine Künstlerin, die mit Porträts arbeitet, Rosenformen untersucht, ihre Hände betrachtet, letztlich nicht deren Erscheinungen, sondern deren Auflösungen sucht. Ihre Frage richtet sich somit nicht an die Essenz der visuellen Vielfalt, sondern an den Ort, wo „Nichts“ und „Alles“ eins, der Moment auch Unendlichkeit ist. Die Suche ist dabei der Weg.

In Ruth Maria Obrists Arbeiten der letzten Jahre begegnen sich immer wieder linear bewegte, ihre Gegenständlichkeit in sich selbst auflösende Zonen und ruhende, satte, monochrome Felder. Sie führen einen Dialog von Dynamik und Ruhe, von Sprache und Wortlosigkeit. Vom Format her, im realen wie im übertragenen Sinn, halten sie sich im Gleichgewicht. Das eine gehört zum anderen und das andere zum einen. Dann schiebt sich ein in den Arbeitsbüchern seit langem immer wieder befragter Strang in den Vordergrund: „Wenn ich von einer Form“, so überlegt die Künstlerin, „einen oder mehrere quadratische Ausschnitte wähle, sind sie unabhängig von den äusseren Begrenzungen. Sie  können sich autonom entwickeln, ohne ihre Eigenheit als Teil zu verlieren. Auch wenn ich eine Form so vergrössere, dass im Bildbereich nur Fläche bleibt, entsteht Unabhängigkeit. Sie kann sich entfalten, ohne die Verbindung zu lösen.“ Es entstehen die ersten gänzlich ungegenständlichen Werke der Künstlerin. Es wird später zu zeigen sein, dass auch die verwendeten Materialien und die eingesetzten Techniken dieselben Gedanken in sich tragen.

Es kann auf den ersten Blick verwundern, dass Abstraktion in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts noch so errungen werden muss. Doch der zweite Blick zeigt, dass die optische Entwicklung des Werkes von Ruth Maria Obrist nicht die einzig relevante ist. Die Künstlerin ist vielmehr einen langen, jede Station mit Akribie prüfenden Weg des Erkennens gegangen. Folgerichtig konnte nur sein, was nach innen wie nach aussen gleichermassen Sinn machte. „Nichts kann ich wissen, ohne es selber erlebt zu haben, gehört zu haben. Nichts kann ich malen, ohne es selber gedacht zu haben, gesehen zu haben. Keiner kann etwas tun, ohne sich selber“, schreibt die Künstlerin 1995. Dass der Wandel, der wohl das weitere Werk der Künstlerin massgeblich prägen wird, genau in dem Zeitpunkt Gestalt annimmt, da sie beschliesst, ihr Werk erstmals in grösserem Umfang zu publizieren, entspricht der Bedeutung intuitiver Schritte im Werk der Künstlerin.

Ruth Maria Obrist ist, von ihrer Art wie sie der Welt begegnet, nicht ein betont extravertierter Mensch, dennoch spielt die Kommunikation eine wichtige Rolle. Immer wieder haben Texte, Gedanken, Bilder, die ihr Bekannte und Freunde als „Zeichen“ zugesandt haben, ihr Werk indirekt beeinflusst. Der diesem Katalog vorangestellte Text von Jorge Luis Borges, den ihr die Aargauer Lyrikerin Frieda Vogt schon vor Jahren nach dem Besuch einer Ausstellung schickte, ist ein solches Beispiel. In ihrem aktuellen Schaffen unmittelbarer fassbar ist der einem „Lexikon der Symbole“ entnommene Ausschnitt zum Thema „Rose“, den  eine Freundin im vergangenen Jahr für sie kopierte.

„Eine Rose ist eine Rose“ hatte Ruth Maria Obrist 1994 in einem spontanen Einfall als eine Art Titel über die Liste zu ihrer Ausstellung in der „Galerie G“ in Freiburg gesetzt. Im Zentrum der Ausstellung standen „Porträts“, davon später. „Eine Rose, ist eine Rose, ist eine Rose“, der Satz hat sich eingenistet. Nicht als Kontrapunkt zu René Magrittes „Ce n’est pas une pipe“ und auch nicht als eine Art „Minimal Art“ Statement – die Kunstgeschichte ist nicht Leitfaden für die Künstlerin, auch wenn sie in noch aufzuzeigenden Verflechtungen und im Sinne der „autonomen Quadrate“ selbstverständlich Teil davon ist. Etwas verschämt gesteht die Künstlerin, dass sie im Moment der Notiz nicht einmal wusste, dass sie Gertrude Stein (1872 – 1946) zitierte, doch das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Die Tatsache, dass die amerikanische Lyrikerin als Verfechterin der Intuition im künstlerischen Prozess gilt, hat sie zu einer „Wahlverwandten“ gemacht. Gepackt hatte sie das aus der Fülle vorhandenen Wissens herausgepurzelte Notat, weil es mitten in ihre Auseinandersetzung mit dem Reichtum von gleichen und ähnlichen Formen fiel. Da stellte sich ihr die Frage, wann das eine das eine und wann das andere ist, täglich.

Gleichzeitig beinhaltete die Rose als uraltes Zeichen der Liebe – und der Vollkommenheit – wohl auch eine ganz persönliche Empfindung. Jedenfalls steckte die Künstlerin kurz vor ihrer Abreise nach Prag im April 1995 einige Sperrholzschablonen von flächig umrissenen Rosenformen in die Tasche, quasi für den Notfall. Dieser trat zwar nicht ein und doch: das Ineinandergreifen der verschiedenen Ebenen führte dazu, dass die Rose für mehr als ein Jahr zu einem der zentralen Themen im Werk der Künstlerin wurde. Dass sie damit ein Thema von unendlicher Fülle aufnahm, das (die als Synonym geltende Lotusblume miteinschliessend) so weit zurückreicht, wie wir das Denken der Menschen nachzeichnen können, ist eine Seite. Dass es ihr – wenn auch unbewusst – gleichzeitig dann zufällt, wenn sich die Zahl der Kulturschaffenden, die das Thema der Rose aufgreifen, vervielfacht, ist die andere Seite. Das Schaffen von Ruth Maria Obrist ist Teil der Zeit. Zwar sangen wir schon in der Hochblüte der französischen Chansons „l’important c’est la rose“ (Gilbert Bécaud), doch seit Umberto Ecos „Im Namen der Rose“ ist die Vieldeutigkeit des Paradies und Martyrium (Dornenkrone) bedeutenden Symbols neu erwacht. Als vielleicht bekanntestes Beispiel sei auf die mehrteilige Videoinstallation „The social life of roses“ von Pipilotti Rist&Samir“ (1996) hingewiesen.

In einem der kontinuierlich geführten Arbeitsbücher – das Dokumentieren (Ordnen) von Gedanken und Arbeitsgängen ist der Künstlerin überaus wichtig – findet sich eine Reihe von Rosenformen mit den ihr zugehörenden berühmten Namen (inzwischen hatte ja auch eine Schweizer Grossbank die Rose in Verbindung mit Zelebrität als Werbeträger entdeckt). Ruth Maria Obrist wählte unter anderem „Picasso“, „Yves Piaget“, „Ingrid Bergman“, „The Charm of Paris“ und „Double Delight“.  Zu Beginn des neuen Themas fand somit eine Auseinandersetzung mit der Erscheinungsform von Rosen in unserer Lebens- und Denkwelt statt. Die bibliophile Dokumentation des „Prager Tagebuchs“ in Form von 38 A5 Karten in mannigfaltigen Umsetzungen ist Ausdruck davon. Weil das Tagebuch in seiner gewissermassen erzählerischen, halb bildlichen, halb typographischen Art eine Sonderstellung im Gesamtwerk einnimmt, sei hier nicht näher darauf eingegangen, um den Mainstream nicht allzusehr aufzufächern. Denn im Hauptwerk spielt die Rose als „Ding“ eigentlich nur eine sehr kleine Rolle. Ruth Maria Obrist nimmt – um die innere Fülle wissend und sie auch im Körper tragend –  eigentlich nur die Form, die Kontur als Element für ihre Recherchen. Sie legt die bereits erwähnten Schablonen aufs Papier, umreisst sie, schiebt die Form, umreisst sie wieder, dreht die Form, umfährt sie, lässt sie kreisen und umfährt sie wieder, wieder, wieder. Aus der Rose wird ein Rosenfeld und je dichter die Ueberlagerungen, desto unkenntlicher die einzelne Form. Die Individualität wird zum Kollektiv, und das Kollektiv wird zum kaum mehr durchdringbaren Netz interagierender Linien. Die vorausgegangene Reihe der „Porträts“ und die „Rosenbilder“ werden praktisch ununterscheidbar, bleiben aber Netze mit ornamental wirkender Struktur. Wann werden sie zur Fläche, wann verlieren die Linien ihre Eigenbedeutung? Ist der Zustand überhaupt erreichbar? Eigentlich müsste es gehen: „Wenn sich ein Etwas – zeitlich bedingt – in unendlich viele Teile zerlegt oder wenn sich ein Etwas – zeitlich bedingt – in unendlichen Schichten überlagert, entsteht dasselbe, d.h. der Vorgang ist nicht mehr ablesbar im fortgeschrittenen Stadium“, notiert sie. Und in die 1996 entstehende Reihe von Hand- respektive Fingerbildern – sie nennt sie „anhandderhand“ – schreibt sie gar die „mathematische Formel“:“ x+y treffen sich und verdichten sich in unendlich grosser Anzahl. xy teilen sich in unendlich verschiedene und unendlich viele Teile. Teile von xy treffen sich und verdichten sich in unendlich grosser Anzahl. Teile von xyxy teilen sich… Teile von xyxy treffen sich…. Teile von xyxyxy teilen sich usw.“ Die Frage treibt sie an, und als dann just zu diesem Zeitpunkt die bereits erwähnte Kopie zur Bedeutung der Rose als Symbol eintrifft, ist es wie von selbst folgender Satz, der die Künstlerin packt: „Die goldene Rose bedeutet Vollkommenheit; die rote Rose Begierde, Leidenschaft, Schönheit, Erfüllung; sie ist die Blume der Venus und das Blut von Adonis und Christus; die weisse Rose ist die ‚Blume des Lichts‘,  sie steht für die Unschuld, Jungfräulichkeit, geistige Entfaltung und Anmut; die rote und die weisse Rose zusammen stellen die Vereinigung von Feuer und Wasser dar und die Vereinigung der Gegensätze; die blaue Rose ist das Unerreichbare, das Unmögliche.“ Das „Haus der blauen Rose“, das wollte sie finden. Als Rosenform wählt sie „the dark lady“. Doch wie es der präzise arbeitenden, jeden Schritt und jede Wahl von Farben und Materialien überdenkenden Künstlerin entspricht, beginnt sie zunächst mit Farben zu experimentieren: Dichte, Durchlässigkeit, Mischverhalten, Umgebungsfarben in Gelb- und Grautönen usw. Was im Kleinen möglich scheint, erweist sich im Grossen stets als unbefriedigend. Doch sie treibt das Tun weiter, sie legt Umriss über Umriss über Umriss, das Netz wirddichter und dichter und dichter, ist fast schon Fläche, da fällt ihr eine neue – logische – Gesetzmässigkeit quasi in den Rücken. Die Bildorte mit vielen Kreuzungen und partiellen Ueberlagerungen beginnen sich vom Blatt zu heben, werden Relief und als solches wieder zur Vielfalt und nicht zum homogenen Feld. Das Experiment mit der blauen Rose ist in gewissem Sinn gescheitert, das Ende dieser Recherchen angesagt, ein Neuansatz gefragt. Und plötzlich ist die Zeit reif für den Weg in die abstrahierende Verkleinerung, respektive Vergrösserung, wie er zu Beginn des Textes geschildert und in den Arbeitsbüchern seit langem vorbereitet ist. Die erwähnte Serie „anhandderhand“ ist ein Schritt, das Vortasten in den Raum mit Objektbildern und einer Reihe von Kuben sind weitere Schritte, die schliesslich in die neuen, ungegenständlichen Arbeiten münden.

Bevor wir darauf eingehen, soll ein Rückblick unter besonderer Berücksichtigung der eingesetzten Materialien die Entwicklung im Zusammenhang aufzeigen.“Die wirkliche Welt ist nicht ‚da draussen‘, sondern ich bin sie und erfahre sie und zugleich mich in Einheit mit ihr“, zitiert die Künstlerin den österreichischen Philosophen PaulWatzlavick in einem Arbeitsbuch. Der Schritt zum eigenen Ich als Zentrum der Welterfahrung und als „Gegenstand“ künstlerischer Auseinandersetzung war für Ruth Maria Obrist 1992 ein existentieller. Während 365 Tagen umriss sie mit einer hautfarbigen Fettkreide die Konturen ihrer Erscheinung in einem kleinen Spiegel. Erstaunt nahm sie wahr, dass die Formen wohl ähnlich, aber nie identisch waren, dass neben der sich verändernden Frisur auch die Befindlichkeit ihren Niederschlag in der „Schrift“ fand. Am Ende des Jahres gibt sie den Umrissen Flächenform und übergiesst sie mit Weissleim. So verschwindet die Spiegelfläche, und das Porträt erscheint hinter einer transparenten Schicht als Form, die schemenhaft sichtbar und doch nicht greifbar ist.

Es ist eines der ersten Male, dass Ruth Maria Obrist Weissleim als Kunstmaterial einsetzt. Ein paar Jahre später stossen dann auch andere Künstler (z.B. der Zürcher Reto Flury) auf das fliessende, ebenmässig erstarrende Material, das jede darunterliegende Farbe durchscheinen lässt, als wäre sie im Material selbst. Ruth Maria Obrist hat in ihrer künstlerischen Ausbildung stets grosses Gewicht auf die Möglichkeiten der Verwendung von Materialien gelegt. Doch die Eigenschaften sind – der Vision der Künstlerin entsprechend – immer nur eine Seite. Damit sie etwas (intuitiv) wählt, müssen sich Eigenschaften, Erscheinungsweise und Symbolik verbinden. Leim wurde erfunden, um Dinge zusammenzuhalten, ihnen Halt zu geben. In dieser ersten Porträtarbeit erscheint dies noch als Paradox. Zum einen lässt der Leim die Kopfform zurücktreten, schafft also Distanz, zum andern giesst er sie in eine feste Form. In 12 schweren, grossformatigen Büchern sind die 365 Spiegel in die Ordnung der Tage eingefügt. Ausgestellt hat Ruth Maria Obrist die Arbeit bisher nie, vielleicht weil sie ihr im Rückblick allzu persönlich erschien und ihr das daraus folgende, fast schon wissenschaftliche Projekt, viel spannender schien.

Sie lud 30 ihr bekannte Personen und Familien ein, während einiger Wochen beim täglichen Aus- und Eingehen ihre Silhouette mit Kreide auf einem 40 x 25 Zentimeter grossen Spiegel festzuhalten und dabei stets Tag und Zeit zu notieren. Grosse Familien hatten die 78 Datumzeilen bald ausgefüllt, Einzelpersonen benötigten längere Zeit. Die Konturen erzählen nicht nur von der Zahl der regelmässig oder selten Ein- und Ausgehenden, nicht nur von ihren unterschiedlichen Grössen. Um Kinder und Erwachsene gleichermassen zu erfassen, musste eine für alle gleiche Mittelhöhe gefunden werden, was in Einzelfällen dazu führte, dass die Köpfe grosser Männer nicht ganz ins Format passten. Das Interessante an der Arbeit ist aber erneut die Charakter- und Befindlichkeitsstruktur der Silhouetten: die Müdigkeit der eingefallenen Schultern, die Frische der sich Reckenden, der Wind in den Haaren, das eilend Notierte, präzis oder unpräzis Zentrierte, das flüchtige oder exakte Befragen, die kaum berührende Kreide, die kraftvoll umreissende Linie usw. Auch dieses Projekt hat Ruth Maria Obrist zu einem grossen Ganzen gefasst.

Im Ueberdenken des Erfahrenen fand die Künstlerin zur breitangelegten Recherche der folgenden Jahre. Zunächst verband sie die beiden Porträtarbeiten; sie gab 10 Personen einen gleichen, kleinen Spiegel wie sie ihn selbst benutzt hatte, und bat sie um eine Silhouette. Die Form holte sie als Schablone heraus und begann sie nun – wie oben bei den „Rosen“ bereits beschrieben – kreisend und drehend auf einem Papier von 60 x 70 cm zu überlagern; vorläufig beliess sie noch jede Linie klar sichtbar, entweder als Strich oder als Aussparung durch Kolorierung der Zwischenräume. Dann zerschnitt sie das Papier in 12 gleiche Teile und klebte sie auf festen Leinenstoff, wie wir ihn von alten Landkarten her kennen. So wurden die Silhouetten zu zusammenlegbaren Atlanten ihrer selbst; gefaltet haben sie dasselbe Format wie die Spiegel. Es ist faszinierend zu beobachten, wie Ruth Maria Obrist für jede Arbeit die bis ins letzte Detail durchdachte Form findet und jeder Arbeit so ihre eigene, abgeschlossene Ordnung gibt. So schuf sie für diese Doppelarbeit mit Porträt (analog den vorangegangenen Projekten je mit Leim übergossen) und „Silhouettenkarte“ eine spezielle Kartonschachtel, in der sich die beiden Arbeiten „begegnen“ und zusammen als Facetten von Individualität eine Einheit bilden.

Dann löste sich die Künstlerin von der Zuordnung von Schablone und Porträt, nahm die Form als Gegenstand einer Recherche, die über jegliche „Ich“-Zugehörigkeit hinausging und doch darauf zurückwies. Die Formate wurden grösser, die Ueberlagerungen dichter. Und vor allem setzte sie nun den Leim in neuer Art ein. Sie nutzte ihn direkt als Zeichenmaterial und verband (verleimte) die Netze so in einer geradezu materiellen Art. Ruth Maria Obrist ist keine luftorientierte Theoretikerin, sie will das Entstehende auch fühlen, tasten, mit den Händen spüren. Sie gingweiter, da übermalte sie die Leimlineaturen mit Acrylfarbe und betonte damit ihren Reliefcharakter oder – umgekehrt – sie beliess die Linien und füllte die Zwischenräume. Es ist ihre grosse handwerkliche Fähigkeit, dass der Weissleim die Konturen nicht verwischte, umsomehr als die dahinterliegende Fragestellung der Künstlerin eigentlich genau das wünschte.In einer nächsten Phase finden die Arbeiten ihren Ausdruck in den eingangs beschriebenen zweigeteilten Arbeiten, die zum einen Lineamente aufzeigen, zum anderen den erstarrten Fluss des Weissleims. Die darunterliegenden Farben entsprechen der erfühlten Beziehung zum Menschen hinter derverwendeten Silhouette. Doch in der Zweiteilung ist gleichzeitig die Zielsetzung formuliert, die Suche nach dem Moment, da das eine ins andere übergeht. Zur detailreichen Recherche gehören auch die Umkehrung, die dort, wo der Weissleim die Formen bildet, die monochrome Acrylfläche dazustellt und das Erproben unterschiedlicher Beziehungsstrukturen durch die Veränderung der Formatgrössen.

Ruth Maria Obrists Werk kann unter methodischen und formalen Aspekten ins künstlerische Umfeld ihrer Generation und zugleich auch dem künstlerischen Mentalitätsraum der Region, in welcher sie arbeitet, gestellt werden. Mit Max Matter (geb. 1941) verbindet sie zum Beispiel der Weg, eine selbstgewählte Ordnung durch Wiederholung und/oder Wandlung in eine andere überzuführen. Mit Hugo Suter (geb. 1943) teilt sie die Suche nach der Vernetzung des „Einen im Andren“. Von Stefan Gritsch (geb. 1951) gibt es Zeichnungen, die mit kurzen Strichen so lange um eine oder mehrere „gefundene“ Formen kreisen, bis sie sich als „all over“ in sich selbst auflösen. Es gäbe der Verflechtungen mehr zu nennen, doch handelt es sich eher um ein Klima denn um Beeinflussungen, umsomehr als die inhaltliche Zielsetzung von Ruth Maria Obrist eine zutiefst persönliche ist. Mit ersteren teilt sie zwar die in der Kunst der 70er Jahren verstärkt Gestalt annehmende Suche nach Welterkenntnis im Rahmen der sogenanten „Neuen Innerlichkeit“ und mit allen den forschenden Charakter der Arbeitsmethoden, doch die Blickrichtung und deren Umsetzung wurzelt im eigenen Erleben, Bedürfen und Können.

Inhaltliche Nähe in einem seelischen Sinn findet sich viel eher bei der AmerikanerinAgnes Martin (geb. 1912) und damit letztlich in den Idealen jener Facette der Minimal Art, die in der Reduktion die Ausdehnung der in Farben, Strukturen und Materialien immanenten Energien suchte. So wie Agnes Martin dort, wo „die Horizonte sich ins Unendliche ausdehnen“ das Leben suchte, so ist wohl auch für Ruth Maria Obrist der Ort, wo die Vielfalt in Transparenz und Ordnung mündet, der Ausgangspunkt alles Lebendigen: die Essenz des Lebens, die in ihrer Unergründlichkeit das „Nichts “ und das „Alles“ als Einheit ein und desselben umschliesst.

In den neuesten Arbeiten, die in Anlehnung an das „Haus der blauen Rose“ von Blauschattierungen ausgehen, wird die Annäherung an Agnes Martin zum Teil auch formal wahrnehmbar, doch sind die Gitterstrukturen von gänzlich anderer Art. Einmal mehr zeigt sich das stupende Materialgefühl der Künstlerin. Und wie immer spielt der „Zufall“ mit. In einem alten Ordner entdeckte sie ein kleines, weisses, horizontal und vertikal übernähtes Stück Stoff. Die äussere Struktur, aber auch die einzelnen Schlingen, die sich Stich für Stich zur Linie und als Linien zum Netz verbinden, werden vor dem inneren Auge zur Metapher eines sich unendlich ausdehnenden Feldes, das Transparenz und Verbundenheit zugleich beinhaltet. Sie geht sogleich weiter: Nicht Stoff wählt sie als Untergrund, sondern Papier, das sich nach dem Nähen auswaschen lässt und so Materie und Struktur in ein durchbrochenes Netz wandelt.Ueber eine monochrom bemalte Holzplatte gelegt, wird so Untergrund, Materie und Struktur zur Dreiheit. Im Verbund mit früheren Techniken und Erkenntnissen – mit Weissleim gelegte Gitterstrukturen, offene, monochrome oder in kleine Quadrate unterteilte Felder – lässt Ruth Maria Obrist Reihen entstehen, die die Summe ihres bisherigen Schaffens und Erkennens umschreiben und zweifellos den Anfang eines neuen Kapitels bilden.