Viniterra oder Wenn die Natur sich selbst Kunst ist 2000

Ulrich Studer realisierte am Bielersee das grösste Schweizer Land-Art Projekt.

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 25. April 2000

Am Anfang war die Sorge. Würde die Natur sich wirklich so zeigen, wie sich das der Künstler vorstellte? Dann das lange Warten auf die Nacht. Und auf einmal das Licht; als würden die Steine selbst leuchten; aus ihrem eigenen Inneren. Von nah war es der Rebberg, der sich von seiner sonst unsichtbaren Seite zeigte, von fern waren es die Kraftlinien der Landschaft von Biel bis La Neuville, die im Licht widerschienen. Nicht 25’000 Kerzen leuchteten, sondern 250’000 Jurasteine. 15 Kilometer Landschaft wurde sich selbst zur Kunst.

Land-Art wird genannt, was Erde, Landschaft, manchmal auch Stadt in Kunst verwandelt. Sie hatte ihre erste Hochblüte in Amerika, als Walter de Maria sein berühmtes „Lighting Field” (400 Blitze anziehende Stahl-Stangen) in der Wüste New Mexicos installierte (74 – 77), als Christo seinen „running fence” – ein 40 km langer, weisser, flatternder Zaun aus Nylon-Stoff – entlang der kalifornischen Küste baute (72 – 76). Ulrich Studers Viniterra hat hier ihre kunst-geschicht-lichen Wurzeln. Aber sie ist keineswegs ein Plagiat, sondern eine inhaltliche und eine orts-, zeit- und gesellschaftsspezi-fische Weiterentwicklung.

Primärer Unterschied ist die wüstenartige Landschaft dort, das dichtbesiedelte Gebiet hier. Die amerikanischen Projekte wollten den einsamen Dialog und fanden ihn angesichts der Dimensionen des Landes. Auch Ulrich Studer suchte im Kern nichts als die Erde und ihren Widerschein. Nicht zufällig hat er in seinem ersten Dokumentationsheft Platons „Höhlengleichnis” abgedruckt, welches, vereinfacht ausgedrückt, besagt, dass die Materie der Schatten, die Realität aber das Licht sei. Weil Studer seine Vision aber in der Landschaft realisieren wollte, in der er aufgewachsen ist und die ihn geprägt hat, wurde Viniterra automatisch ein doppeltes Projekt. Ein in sich geschlossenes, vergleich-bar mit den Regungen, welche die Besucher angesichts der Lichtzeichnung in der Nacht in sich spürten; und ein zur Gesellschaft hin offenes, das die gesamte Region, die Reben und die Menschen, die sie bearbeiten (und auch jene, die den Wein trinken) miteinschloss.

Dass der zweite Aspekt in der Umsetzung des Kunstvorhabens der weit schwierigere war, ist menschlich. Und zugleich der Grund, warum es zum einen in der Schweiz bisher nichts Ähnliches gab, zum andern, warum im Vergleich immer wieder Christo genannt wird. Da ist zunächst Christo, der in der Pionierzeit der Land-Art, 1968, die Kunsthalle Bern verhüllte. Der museale Kontext machte es möglich. Denkt man dann an die Verhüllung des Berliner Reichstag, so ist Viniterra – zumindest organisatorisch – nahe. Doch da ist auch die gemeinsame europäische Kultur. Die Projekte des Bulgaren Christo wurzeln im Ver- und Enthüllen von Altarbildern in der griechisch-orthodoxen Kirche. Ulrich Studers Installationen beinhalten die Wertschätzung des Lichtes, die wir aufgrund seiner Bedeutung im Christentum in uns tragen. Viniterra, „zufällig” an Ostern durchgeführt, hat dies vielschichtig gezeigt.
Während aber das Verhüllen, das Wegnehmen von Licht, bei Christo immer etwas Unheimliches in sich hat, und dementsprechend auch die Rezeption prägt, ist Viniterra – das Licht in der Nacht – von Zehntausenden begeistert und im Innersten berührt gefeiert worden. Weil Ulrich Studer das in der Materie (oder auch in Platons Schatten) gebundene Licht erahnbar machte. 1955 geboren, hat Studer eine andere Beziehung zur Landschaft als Christo (geb.1930). Er weiss um ihre Bedrohung und will als Antwort die Kraft und die Kostbarkeit ihres Lichtes hervorholen; auf dass wir uns seiner bewusst bleiben.
Darum ist sein Projekt auch nicht vergleichbar mit anderen Schweizer Licht- respektive Feuer-Arbeiten, etwa der längst zum Spektaktel verkommenen „Zorn”-Aktionen von Bernhard Luginbühl, die zumindest am Anfang (die erste fand 1976 statt) auch aus der Sorge über die galoppierende Umweltzerstörung stattfanden. Ulrich Studer hingegen suchte in seinem Projekt nicht das Feuer, sondern seinen Widerschein, am und im Rebberg.