Marie-Theres Amici in der Gemeindegalerie in Meggen Vernissageansprache 2001

Landschaft und Körper

www.annelisezwez.ch       Vernissagerede für Marie-Theres Amici
Ausstellung Gemeindegalerie Benzeholz in Meggen  14. Oktober 2001

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Marie-Theres

Ich weiss nicht, ob es Ihnen auch so geht: Seit dem 11. September und allem, was seither an Schreckensnachrichten unterschiedlicher Art auf uns niedergeprasselt ist, schaue ich die Welt anders an. Als Kontrast zur Nervosität, zur Ungewissheit, zur Angst hat der Blick in die Landschaft, auch der Blick zum Himmel eine unglaubliche Bedeutung erhalten. In der sommerlich lauen Nacht nach dem vermeintlichen Finanz-Crash der Swissair zum Beispiel erwachte ich morgens um drei Ohr und konnte nicht mehr einschlafen. Flugzeuge flogen auf mich zu, Börsenkurse wirbelten herum und statt Schäfchen zählte ich Arbeitslose, in Tausender, wohlverstanden.

Da stand ich auf und ging hinaus auf den Balkon; es war warm und hell, Vollmond und auch die Sterne leuchteten intensiv. Es kam ein Gefühl auf, dass diese Welt in ihrer unfassbaren Ganzheit schon viel Schlimmeres gesehen hat und dass dieser Mond auch scheint, wenn möglicherweise vieles nicht mehr so sein wird wie die Wohlstands-Generation es bisher erlebte. Nicht dass sich dadurch alles in mir beruhigt hätte, aber es tat mir gut. Mit ähnlichen, analytischer strukturierten Gedanken war ich schon am Vortag bei herrlichem Wetter durch den Jura gewandert, den Blick auf den Herbstwald, die steilen Jurafelsen gerichtet und mit den Füssen bewusst die Erde spürend.

Die Kunst nimmt sehr oft Dinge wahr, die erst vibrieren, ein Bedürfnis, eine Tendenz antippen, die noch gar nicht so richtig da ist. So habe ich schon im Sommer in einem Text geschrieben, die Natur kehre in die Kunst zurück und führte als „Beweis“ Ausstellungen von Balthasar Burkhard im Kunstmuseum Thun – der Fotograf zeigte da u.a. ergreifende Wüstenbilder – Mireille Gros im Kunstmuseum Bern – die Basler Künstlerin befasst sich mit Strukturen von Wachstum – die Ausstellung „Hochwasser“ im Kunsthaus Langenthal und „Up the Sky“ in Grenchen, „en pleine terre“ im Museum für Gegenwartskunst in Basel und andere Aspekte mehr an.

Was ich indes damals als Reaktion auf die Überfütterung mit Neuen Medien analysierte, obwohl die genannten Ausstellungen längst nicht nur traditionelle Techniken umfassten, bekommt die Tendenz in meinem Empfinden nun noch eine ganz andere Dimension. So etwas wie ein Begehren, das sich, meiner Ansicht nach, auch im wiedererwachten Interesse an der Malerei spiegelt. Die Malerei als be-greif-baren, fass-baren Ausdruck des Menschen.

Sie erraten unschwer, worauf ich hier und heute hinaus will. Die Malerei von Marie-Theres Amici ist hoch aktuell, so traditionell uns das Medium und die Gestik ihrer Bilder auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mögen. Es ist als würde sich die Zeitqualität in ihnen breit machen, als würde das, was die Künstlerin seit langem sucht, plötzlich verständlich, nahe, wichtig.

Dabei ist klar, dass unser Blick, dass die Rezeption dies bewirkt und nicht etwa ein abrupter Wandel im Schaffen der Künstlerin. Die Kunstgeschichte funktioniert so, weil über Kunst nachdenken immer eine Wechselwirkung zwischen Bild und Betrachterin respektive Betrachter und Zeit beinhaltet.
Ich kann mich gut erinnern wie ich an einer Jahresausstellung im Kunstmuseum Luzern, wohl in den späten 80er Jahren, erstmals Bilder von Marie-Theres Amici sah – ich war etwas hilflos. Ich kam nicht vom Thema Landschaft weg und Landschaft war für die Kunstkritik in dieser Zeit a priori reaktionär. Nicht, dass ich die Bilder von minderer Qualität fand, ich wusste einfach nicht, was ich damit anfangen sollte. Umsomehr als die Künstlerin ihre Werke konsequent „Landschaft“ nannte. 

Bis ich dann in einem vertieften Gespräch realisierte, dass es sich bei den Arbeiten von Marie-Theres Amici um Bilder handelt, die zugleich gegenständlich wie abstrakt aufzufassen sind. Nicht etwa als Symbole, in denen zeichenhaft auf etwas Anderes verwiesen wird. Sondern als Gleichzeitigkeiten, als Reflektionen, die das eine und das andere sind. Somit zugleich visuelle wie emotionale Landschaften. Und nicht etwa harmlose, sondern von Lebens- und Zerstörungskräften gefurchte, von intensiven Farben am Kochen gehaltene.

Gestische Malerei war bis in die frühen 90er Jahre ein Main-Stream in der Kunst. Doch das Hauptthema war der Mensch, der Körper und seine Libido, nicht die Landschaft. Es gab Figuratives und Ungegenständliches, aber kaum jemand malte Natur. Ausser den scheinbar ewig Gestrigen. Und den bereits Kunstgeschichte gewordenen – Kirkeby zum Beispiel und dann natürlich, den Ausnahmen, den Einzelgängern.

Streng genommen war auf den Bildern von Marie-Theres Amici, und dies gilt ebenso für heute, nichts Gegenständliches benennbar, doch niemand sprach von abstraktem Expressionismus; da waren, wie bereits gesagt, die Titel der Künstlerin, „Landschaft“, und da war die Gewohnheit unseres Sehens. So wir aus zwei/drei Strichen ein Gesicht machen, so braucht es nur eine Andeutung von Horizont, von Berg oder Tal, von fliessendem Blau, wachsendem Grün und lichterfülltem Gelb bis wir von „Landschaft“ sprechen. Doch da sagte Marie-Theres Amici: „auch ein Gespräch ist eine Landschaft“, auch „Beziehungen zwischen Menschen sind Landschaften“.

Und auf einmal konnte ich die Landschaft betreten, die Klänge hören, mich führen lassen, aber auch Widerstände spüren, dem heissen Rot ausweichen und die Hitze des Gelbs umgehen, um im Blau Kühle zu suchen, im Grün Kraft zu tanken und unter einem grauen Felsen einen Moment Ruhe suchen. Viel Ruhe allerdings nicht, dafür pulsierten die Bilder zu stark und die Balance war zu labil; man hatte den Eindruck jedes Wegnehmen von Farbe und Gestik würde das Gleichgewicht – oder viel treffender der französische Ausdruck, das Equi-Libre aufheben.

So löste sich in der Rezeption die Landschaft auf und wurde zum Feld von Beziehungen aller Art, zu Kontroversen in einem selbst, zu Spiegelbildern familiärer Strukturen, zu Bildern von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die alte Hilflosigkeit gegenüber den Werken von Marie-Theres Amici wandelte sich in starke Zuneigung.

Vieles von dem, was ich eben erzählte, Sie haben das sicher gespürt, gilt auch für die Bilder hier und heute. Doch unser Gespräch im Vorfeld des heutigen Tages verlief eigentlich ganz anders als das erwähnte vor ein paar Jahren.

Zwar hatten wir immer schon von der Gleichzeitigkeit emotionaler Triebkräfte und analytischer Malerei gesprochen. War immer klar, dass es nie um zügellose Gestik ging, sondern immer auch um „Gespräch“ zwischen Malerei und Ausdruck. Um Equilibre sowohl der Kräfte wie der Komposition.

Doch nun stand dieses Moment von „Malerei“ sehr viel mehr im Vordergrund. Nicht inhaltlos, doch als zentrale Aussage der Künstlerin habe ich in Erinnerung wie sie sagt: „Es geht darum, wie ich meine Empfindung angesichts eines Naturphänomens in Malerei sichtbar machen kann. Wie ich den Blick – auf einen Wasserfall zum Beispiel – sowohl optisch wie bezüglich dessen, was ich dabei in mir spüre, einfangen kann.“  Das Wort „emotional“, das tendenziell etwas Heftiges miteinschliesst, fällt nicht mehr, obwohl die neuen Bilder so gestisch gemalt sind wie  die früheren. Aber die Sattheit der Farben ist vielerorten zurückgenommen.

Das liegt zum Teil am Wandel des Motivs. Hatte man früher assoziativ den Eindruck hügeliger Berggegenden, furchiger Tektonik, so ist es jetzt mehr und mehr die Wassernähe die fokussiert wird. Wasser, das sich in der Entwicklung von blau zu fast weiss entwickelt, vom Fluss zum Fall, vom Fliessen zum Spritzen, zur Gischt. Das hat zunächst – es geht ja immer noch um die Gleichzeitigkeit von Landschaft und Empfindungsebene – seinen Grund darin, dass Marie-Theres Amici dieses Jahr häufig nach Neuhausen fuhr, um den Rheinfall zu zeichnen, von unten mit Blick auf das hinunterstürzende Wasser, vom berühmten Mittel-Felsen aus, das heisst mittendrin, umgeben von Wasser, dann auch vom zürcherischen Laufen aus und von der Brücke mit den flachen Steinzonen hin zum unsichtbar abfallenden Wasser.

Warum ich das so exakt beschreibe, mögen sie staunen – schnell erklärt – ich bin in Neuhausen aufgewachsen und zur Primarschulzeit zwei Jahre in Not-Schulzimmern in ehemaligen Räumlichkeiten der Aluminium AG gleich dem Rheinfall zur Schule gegangen. Aber eigentlich spielt das keine Rolle, es geht nicht um Geographie, sondern um Gleichnis, um die Verbindung von äusseren und inneren Sensationen.

All das ist eine Gratwanderung. Grundsätzlich arbeitete schon Cézanne an der Auflösung von Natur und Empfindung und viele Maler einer älteren Generation würden auch bezüglich ihrer Bilder ähnliche Worte brauchen wie ich eben. Und doch sind da Welten dazwischen. Marie-Theres Amicis Bilder sind nach dem abstrakten Expressionismus gemalt und haben auch Twombly  im Rücken. Das heisst, der Abstraktionsgrad ist ein anderer und Erlebnis meint in ihrem Fall dementsprechend nicht ein optisches Erlebnis, sondern seine Wandlung in Körper-Sensation. Erlebnis ist nicht etwas, das sich zwischen Netzhaut und Gehirn abspielt, sondern durch den ganzen Körper reist, so wie wir entweder kurz atmen können – Lungen füllen, Luft ausstossen – oder den Atmen in die Bauchhöhle ziehen können und mental bis in die Fingerspitzen schicken. Solcherart Erlebnis ist gemeint, wenn Marie-Theres Amici sagt: Ich versuche zu imaginieren (man höre das Wort,  „imaginieren“ – Bild werden lassen), zu zeigen, was ich erlebe beim Blick aufs fallende, vielleicht zur Gischt versprühende Wasser.

Die Thematik der neuen Bilder bewirkt, dass sie weniger materiell, weniger erdhaft erscheinen als die früheren. Die Ausstellung, die ich mit meinen Worten eröffnen darf, zeigt die Wende sehr eindrücklich. Da ist Luft, da ist Licht, da ist Vibration und selbst das Grün der Wiese und das Grau der Felsen scheint nicht schwer und dicht, sondern leicht zu sein. Zwar betont die Künstlerin, dass sie den Aggregatzustand des fallenden Wassers nur in Wechselwirkung zum Untergrund, zur Böschung, zu den Felsen malen könne. Das Sichtbare und das Verborgene, das sich in der Bewegung des Wasser ständig Wandelnde, fasziniere sie.

Die frühere Rezeptionsstruktur mit der Betonung Beziehungs-Landschaft  will da nicht mehr passen. Ich habe den Eindruck, die Wasser-Bilder konzentrieren sich stärker auf das Ich, auf die eigene visuelle, emotionale und spirituelle Auseinandersetzung mit Leben, mit Landschaft, mit Welt, mit Dasein, mit Existenz. Und zwar, wie immer, in der doppelten Struktur von Malerei als Medium und Malerei als Trägerin von Ausdruck im Spiegelbild der Natur.

Dieser Wandel ist ohne Zweifel ein Stück der Künstlerin selbst – man wählt ja intuitiv immer das, was der inneren Befindlichkeit entspricht. Mit dem Älterwerden der Kinder, beginnt für viele Mütter (zuweilen auch Väter) ein neuer Lebensabschnitt, eine Zeit mit mehr Freiheit, weniger Zwängen, möglicherweise auch weniger unmittelbaren, emotionalen Auseinander¬setzungen auf der Ebene Mensch, Familie, Gesellschaft und das zeigt sich bei einer Künstlerin,  wie könnte es anders sein, in der Entwicklung ihres Schaffens.

Und je nachdem, wo man selbst steht, zieht es einem stärker zu den älteren oder den neueren Bildern, die nach wie vor am liebsten als Grossformate – als direkte Begegnungen von Bild, von Landschaft und Körper – daherkommen, sich als Fülle von Teilaspekten aber auch in kleineren, schneller gemalten Papierarbeiten äussern können. Was hier nicht gezeigt wird, aber dennoch erwähnt werden muss, ist die Bedeutung der Zeichnung, die Marie-Theres Amici in den Jahren, da die Aufgaben im Familienkreis ein freies Schaffen kaum möglich machten, über Wasser gehalten haben.
Vor Ort  – sei es am Rheinfall, an den Giessbachfällen, oder in der Nähe der Rosenlaui – da, wo schon Caspar Wolf im 18. Jahrhundert vom Phänomen Wasserfall fasziniert war – da zeichnet Marie-Theres Amici, Blatt und Blatt hält sie Form und Bewegung fest. Auf der Basis solcher Übungen nur ist es möglich, zu den Papierarbeiten oder – unabhängig davon – zu den Grossformaten weiterzugehen, den Ölbildern, die in langer und intensiver Auseinandersetzung nach ihrem eigenen Gleich-Gewicht suchen.

Ein Gleich-Gewicht, das nach rund 13 Jahren stetiger Intensivierung, heute an einem Punkt steht, wo sich Zeit und Ausdauer, Empfindung und Rezeption zu bündeln scheinen. Die Bilder von Marie-Theres Amici sprechen Bedürfnisse in uns an – nicht gestrige, sondern heutige. Den Innerschweizern sei dies deutlich gesagt, der Kanton Solothurn, wo Marie-Theres Amici aufgewachsen ist, hat das nämlich schon seit längerem gemerkt. Daselbst wir im kommenden Jahr die erste, grössere Museumsausstellung der Künstlerin stattfinden und daselbst erhält sie noch dieses Jahr den „Preis für Malerei“.

Annelise Zwez