Chinas Kunst kontert Paul Klee
Die Sammlung Sigg im Kunstmuseum Bern. Bis Oktober 2005
Bern erlebt einen Kultursommer ohne gleichen. Das Kunstmuseum Bern kontert die Eröffnung des Zentrums Paul Klee mit der grössten Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst aller Zeiten.
Was Insider wussten, wird jetzt erstmals einem grossen Publikum aufgezeigt: In der Schweiz befindet sich die weltweit wichtigste Sammlung an chinesischer Gegenwartskunst. Eigner ist der Luzerner Uli Sigg. Der Kunstliebhaber hat seine Zeit als Geschäftsmann (ab 1980) und als Schweizer Botschafter (1995-1998) in China dazu genutzt, der ab 1979 aufgrund von Deng Xiaopings „Politik der offenen Türen“ keimenden Gegenwartskunst auf die Spur zu kommen. Heischte der Zugang zu Künstlerateliers in den 1980er-Jahren noch grösste Vorsicht, kann sich Sigg in den 90ern frei bewegen. Realisierend, dass niemand gezielt sammelt, reist der chinesisch Sprechende quer durchs Land und kauft.
Und nicht nur das: Sigg ist es, der Harald Szeemann mit Chinas Kunst bekannt macht, was zur Grenzen sprengenden, ersten Präsentation an der Biennale Venedig 1999 und in der Folge zum Boom chinesischer Gegenwartskunst im Westen führt. Jetzt in Bern wird ein Boom in umgekehrte Richtung erwartet: Wie man hört, haben sich „schwerreiche“, angehende Sammler aus China angemeldet, wo es bisher noch kein einziges Museum gibt, das die eigene Kunst zusammenträgt.
Die Sammlung Uli und Rita Sigg umfasst heute rund 1200 Werke von 180 Künstlern: Viel Malerei, viel Fotografie, wichtige, grosse plastische Arbeiten und einige repräsentative Videos. Von Fang Lijung, Chang Xugong, Feng Mengbo, Qi Zhilong, Wang Jin, Xu Bing, Liu Wei, Yang Zhenzong….sich die Namen zu merken, ist selbst für Fachleute ein schwieriges Unterfangen.
Dass Bern den Zuschlag für die erste Präsentation von Werken aus der Sammlung Sigg erhielt, kommt nicht von ungefähr. Kurator Bernhard Fibicher (seit kurzem wieder in Biel wohnhaft) zeigte schon 1998 in der Kunsthalle die kantonesischen „Grossschwanzelefanten“ und erst kürzlich Werke von Ai Weiwei, dem wichtigsten Mittelsmann zwischen China, Uli Sigg und der Schweiz (jetzt Co-Kurator). Mit der Bereitschaft Matthias Frehners, China die grösste Ausstellung aller Zeiten im Haus an der Hodlerstrasse einzurichten, kam es zum Startschuss; ein Kraftakt für das Museum und sicher nicht zufällig auf die Zeit angesetzt, da im Schöngrün die letzten Vorbereitungen für die Eröffnung des ZKP laufen.
Der Coup ist gelungen. Die Ausstellung „Mahjong“, benannt nach einem beliebten Spiel um Kombinationen, bietet eine überwältigende Begegnung mit einem Kunst-Kontinent, der noch kaum bekannt ist. Der rote Faden liegt vielleicht in Siggs Aussage, das „ultimative Studienobjekt“ sei für ihn China selbst. Das heisst, es dominiert in den meist figurativen Motiven chinesisches Leben, Empfinden und Sehen wie es sich heute zugleich aufbrechend wie von der Vergangenheit geprägt manifestiert. Und dies durchaus kritisch oder zumindest ironisch und zuweilen mit versteckten Botschaften angereichert. Der Treppenhaussaal in Bern mag es andeuten: Im Zentrum ein Modell mit Hunderten von Tonfiguren und Waffenarsenalen, welche die Truppenparade auf den Tiananmen-Platz im Wandel der Zeit und als Vision bis 2049 zeigt (Zhou Xiaohu). Links davon Aufnahmen von Performance-Künstlern, die Denkmalfiguren vom Sockel holen und an ihrer Stelle tanzen. Rechts ein realistisch gemaltes Bild eines Radfahrers, der in seinem Anhänger zwei tote Pinguine (statt Studenten) abtransportiert (Wang Xingwei). Und darunter die Fotografie eines Einsamen nachts auf dem Tiananmen-Platz, der so lange auf den Boden haucht bis eine dünne Eisschicht entsteht (Song Dong).
Die Ausstellung ist in zwölf Kapitel unterteilt: „Gesellschaft versus Individuum“, „Machtspiele“, „Mythen und Legenden“, „Pervertierte Traditionen“, „Kalligraphie“, „Urbanismus“ und andere mehr. Der Themenbogen zeigt, dass die Vielfalt enorm ist, sowohl Leises wie die kaum sichtbaren Landschaften von Qi Shi Hua als auch Lautes, Wildes, Grenzen Sprengendes umfasst. Letzteres vor allem im Bereich des Körperlichen die Fotografie eines Mannes zum Beispiel, der sich eine individuelle Nummer einbrennen lässt oder die anrührende Fotografie eines toten Greisen und eines Totgeborenen in einem Eis-Bett. Stilistisch und medial ist die Arbeitsweise der jungen Chinesen nicht anders als bei uns. Insbesondere die Pop-Art schwingt vielerorten mit, was nicht verwundert, ist doch der Alltag ein Hauptthema. Doch das Westliche trifft in China auf einen kulturell so anderen Boden, dass dadurch Anderes, Eigenes entsteht; mit qualitativen Unterschieden selbstverständlich.
Was auffällt, ist die geringe Zahl von Künstlerinnen, die, so Bernhard Fibicher, in China noch kaum die Möglichkeit haben, in Erscheinung zu treten. Immerhin gibt es in der Sammlung Sigg eine vielteilige Fotoarbeit der jungen Chen Lingyang, die den Monatszyklus der Frau in „barocke“ Spiegelungen einbringt. Ein Werk, das Bewusstsein signalisiert, das die 30-jährige in China selbst aber wohl (noch) nicht zeigen könnte. So wie auch zahlreiche Arbeiten zu Mao Tse Tung ein beliebtes Thema und Werke mit sexuellen Konnotationen in China tabu wären.
Mehr in Holderbank
Mahjong hat zwei Standorte. Während das Kunstmuseum Bern breite und notgedrungen gedrängte Übersicht bietet, sind in ausgedienten Werkhallen der Holcim im aargauischen Holderbank grossformatige Einzelwerke zu sehen. Kunst hat da seit den 1980er-Jahren Tradition; erinnert sei an Mammut-Ausstellungen von Bernhard Luginbühl und Dieter Roth. Zu sehen ist da zum Beispiel ein riesiges, bis ins Detail ausgearbeitetes Modell Pekings (Lu Hao und Mitarbeiter), das die gewaltige Entwicklung der Stadt ebenso wie darin gelebtes Leben aufzeigt. Der Umbruch ist vielerorten Thema, hier in der raumfüllenden Fotoserie von Ai Weiwei. Spannung ergibt sich aus dem beigestellten 3D-Video-Überwachungsturm (Sha Yeya) und der grinsenden Figuren-Armada von Yue Minjun, die nicht zuletzt an die Ausbeutung der chinesischen Wanderarbeiter erinnert. Dass im Eingang zum Saal ein Video in den Boden eingelassen ist, das einen Menschen, der auftaucht und wieder eingesogen wird, zeigt, verweist darauf, dass weder in Bern noch in Holderbank Kunst einfach nur ausgebreitet ist, sondern inhaltlich gearbeitet wurde.