Rineke Dijkstra Porträts Fotomuseum Winterthur 2005

Dem Menschen ins Gesicht geschaut

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 15. März 2005

Ungeschminkte Fotografien von Jugendlichen an Meeresstränden haben Rineke Dijkstra (46) vor rund zehn Jahren international bekannt gemacht. Sie stehen im Zentrum der Übersichtsausstellung im Fotomuseum Winterthur.

Die 1990er-Jahre sind in der Kunst nicht zuletzt die Jahre des Körpers. Im Bereich der Fotografie spielte dabei das Porträt eine wichtige Rolle: das Gesicht, die menschliche Figur, die mehr ist als ihr eigenes Abbild. Porträts, die vom Individuellen ins Kollektive kippen und als Projektionsflächen ein Stück des eigenen (Betrachter)-Ichs aufnehmen. Künstler und Künstlerinnen wie der Amerikaner Jeff Wall, der Deutsche Thomas Ruff, die Amerikanerin Roni Horn, die Schweizerin Katrin Freisager und, keineswegs zuletzt, die Holländerin Rineke Dijkstra sind im Kontext zu nennen.

Den Durchbruch schaffte die Absolventin der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam (1981-1986) mit einer 1992 begonnenen Reihe von Aufnahmen an Meeresstränden in den USA, in Polen, Belgien, Gabon und anderen Ländern mehr. Alle zeigen sie grössere Kinder und Jugendliche, die sich von der Fotografin nach einem Bad im Meer haben ablichten lassen; ohne Schnick-Schnack und Schminke, ihrer eigenen und momentanen Befindlichkeit entsprechend. Sand oder Stein, Meer und Himmel dritteln den Hintergrund in leicht voneinander verschiedenen Rhythmen, analog den unbedeutenden Verschiebungen des Lichtes und der Wolken.

Nicht Dramatik ist das Thema, sondern der scheinbar belanglose Moment im Spiegel der Lebenszeit der Modelle. Da sind die beiden Buben in Kolobrzeg, nur mit weissen Unterhosen bekleidet, deren Blick oszilliert zwischen Scheu und Neugierde. Die (noch) überlangen, hinter dem Rücken verschränkten die Arme des Einen werden zwischen den Beinen wieder sichtbar. Da ist das Mädchen, schon fast junge Frau, mit dem langen Oberkörper, dem schwarz-weiss gestreiften Badeanzug, den dunklen, wehenden Haaren und den steifen, an die Oberschenkel gepressten Armen. Beide Bilder zeigen, was Rineke Dijkstra fasziniert und eindrücklich ins Bild zu setzen vermag: Die Einheit von Gesichtsausdruck und Körperhaltung. Da ist nirgendwo, oder nur vereinzelt angedeutet, der Kopf spürbar, der dem Körper befiehlt, sich so oder anders zu zeigen. Dijkstra sucht im Zufälligen der Begegnung am Strand, im Moment der Rückkehr aus dem Wasser ans Land eine Art Vakuum-Situation, in welcher die Fotografierten sich ihrer selbst nicht ganz so bewusst sind und damit – vielleicht – paradoxerweise in höchstem Mass Ausdruck von sich selbst. Und dies in einer biographischen Zeit, in der sie zusätzlich zwischen zwei Lebensphasen stehen.

Die Reihe dieser ausserordentlichen Strandporträts wurde schon vielerorten gezeigt – in der Region zum Beispiel in „Missing Link“ im Kunstmuseum Bern 1999. In der bereits in Paris präsentierten und nach Winterthur nach Barcelona und Amsterdam weiter reisenden Überblicksausstellung (Kuratorin: Hripsimé Visser) sind sie die grösste Gruppe. Das Interesse gilt allerdings ebenso der Gretchen-Frage, ob der Blickwinkel der Künstlerin weiter ist als der eine Fokus. Es gibt Aufnahmen, wie zum Beispiel die Kinder im Tiergarten in Berlin (1998), da ist man geneigt von „Schema X“ zu sprechen. Es gibt aber auch Beispiele, die unter die Haut gehen, insbesondere die parallel zu den Strandbildern entstandenen Aufnahmen junger Mütter, welche der Fotografin erlaubten, sie unmittelbar nach der Geburt ihrer Kinder nackt mit den noch geröteten Säuglingen in den Armen vor einer neutralen Wand abzulichten. Wohl niemand hat vor Dijkstra hat die „Gewalt“ des Geburtsgeschehens für die Körper von Mutter und Kind so tabulos und eindrücklich visualisiert. Auch hier ist es eine Art Zwischen-Zustand, der für die Authentizität zeichnet. Ähnlich und anders wie in den zeitgleich gemachten Aufnahmen von Torreros unmittelbar nach dem Stier-Kampf.

Neuere Reihen zeigen einen anderen Rhythmus. Es sind Langzeitstudien – zum Beispiel des jungen Olivier, der sich 2000 entschliesst in die Fremden-Legion zu gehen und den Dijkstra bis 2003 in Abständen und in verschiedenen Lagern porträtiert hat, mit und ohne Uniform. Das Interesse gilt dabei – und da liegt auch die Qualität – ganz offensichtlich den minimen, die Zeit und die persönliche Entwicklung spiegelnden Veränderungen in den Gesichtszügen. Nicht die Dramatik des möglicherweise Erlebten ist somit das Thema, sondern ihre Zeichnung im Gesicht. Da liegt Potential für die Zukunft der Künstlerin, deren unmittelbar heutiges Schaffen in der Ausstellung leider zu kurz kommt.