Vernissagerede anlässlich von „Kunst in Lenzburg“ – Freilichtausstellung rund um Schloss Lenzburg im Rahmen von „Lenzburg findet statt – 750 Jahre Stadtrecht

 August 2006

Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Eine Ausstellung mit ortsspezifischen Arbeiten von Aargauer Künstlern und Künstlerinnen? Und sie solle eine solche Ausstellung kuratieren? – Die langjährige Lenzburger Galeristin Elisabeth Staffelbach reagierte skeptisch auf das Ansinnen der Lenzburger Kulturkommission. Ausstellungen dieser Art gebe es doch nun schon seit annähernd 30 Jahren; Neues sei da nicht mehr möglich, meinte sie. Kaum jemand in der Schweiz hat das Recht so zu reagieren wie Elisabeth Staffelbach. Denn sie ist eine der grossen Pionierinnen dieser Art von Ausstellungen. 1982 ergriff sie die Initiative zu einer der ersten Outdoor-Inszenierungen mit künstlerischen Arbeiten, die einem Thema folgten und grossenteils für Lenzburg konzipiert wurden. Es war die Zeit von „natur & kunst“ rund um den Fünfweiher. Die Ausstellung ist inzwischen legendär und wer zuhause noch einen Katalog hat, bitte nicht fortwerfen – es existieren nur noch ganz wenige Exemplare.

Lenzburg ist somit eine Pionierstadt in Sachen Freilichtausstellungen und kann heute – zeitlich etwas gedehnt nicht nur 700 Jahre Stadtrecht, sondern auch 25 Jahre Freilichtausstellungen feiern.

Es folgte 1985 mit „Schloss, Schlösser, Luftschlösser“ eine Zweitauflage, die qualitativ gewiss von nationaler Bedeutung war – erinnert sei an die verspiegelte Himmelsleiter von Ueli Berger, an das Lufthaus von Heidi Bucher – doch die Zweitauflage stand bereits in Konkurrenz mit ähnlichen Veranstaltungen in Môtiers, in Bex und war nicht mehr im selben Mass Pioniertat.

Sie begreifen jetzt zweifellos die erste Reaktion der angefragten Kuratorin. Sie wollte indes nicht von sich selbst aus gehen, sondern liess die Künstler und Künstlerinnen entscheiden. Deren 16 fragte sie an.  Die Auflage, dass „nur“ Aargauer Kunstschaffende eingeladen werden sollten, empfand sie zunächst als nicht zeitgemässe Einengung, doch bald wurde ihr bewusst, wie leicht es ist, dem drohenden „Diskurs in der Enge“ ein Schnippchen zu schlagen. Denn schon immer blieben viele Aargauer Künstlerinnen und Künstler im Umfeld ihrer Ausbildungsorte „stecken“ – und so gingen denn die Briefe ebenso nach Lenzburg wie nach Genf, nach Baden wie nach Basel, Burgdorf, Zürich, Darmstadt, London.

Doch viel Erstaunlicher als das: Alle 16 sagten: Wir kommen gerne. Wie ist das zu interpretieren? Eine Hommage an die Pionierstadt Lenzburg? – Kaum, denn mit Ausnahme von Beat Zoderer und Gillian White – die als einzige zum dritten Mal mit dabei sind –  und Urs Stäuble, der 1985 mit von der Partie war – erinnerten sich wohl nur wenige an die 1980er-Jahre. Eine Hommage an Elisbeth Staffelbach, die am kommenden 19. August das 30-Jahr-Jubiläum ihrer Galerie feiert? Auch das wohl nur vereinzelt – denn die Ausstellung, in die ich hier und heute einführen darf, ist keineswegs ein 1:1- Abbild ihrer Galerietätigkeit. Es ist offenbar vielmehr so, dass der Ausbruch aus dem geschlossenen „White Cube“ von Museen und Galerien auch für jüngere Künstlerinnen und Künstler immer wieder eine besondere Herausforde-rung ist. Dennoch sind es wohl alle Punkte kombiniert, welche die Künstlerinnen und Künstler motiviert haben. Und wie die Ausstellung zeigt, kann von Stillstand tatsächlich nicht die Rede sein, im Gegenteil.  Eine einzige Absage gab es später – mangels Inspiration oder vielleicht auch ganz einfach Zeit, denn es gilt klar zu sehen: so einfach gewisse Arbeiten jetzt scheinen, wenn man ihnen begegnet, so aufwändig in Konzeption und Realisation sind sie dennoch. Die echte Problematik, dass die Budgets seit jeher kaum für mehr als die Spesen reichen, kommt noch dazu. Ins Feiern heute gehört darum a priori der Dank.

Sie können es sich gewiss leicht vorstellen, dass, wenn Elisabeth Staffelbach und ich selbst den Parcours von 2006 abschreiten, von allen Seiten die Projekte von 1985 aus dem Untergrund rufen. Ist denn wirklich nichts mehr da von Heiner Richners Wiesenrund, ist die Ameisenstrasse von Rued Häusermann und Giuseppe Reichmuth wirklich nicht mehr da? Das führte mich zur Idee, zu überlegen, welche Projekte von 2006 denn stilitisch, inhaltlich, medial vor 24 Jahren schon hätten da sein können und welche nicht. Denn daran zeigt sich indirekt Weite und Entwicklung, je nach Generation, eingesetztem Medium und Thematik. Machen wir einen Rundgang: Peter Gysis humorvolle Möblierung des Burghalden-Teiches – ja doch, auf diese Idee hätte schon in den 80er-Jahren jemand kommen können (vielleicht sogar er selbst), auch wenn die subversive Verbindung von Design und Kunst eigentlich ein Thema des 21. Jahrhunderts ist. 100 Meter den Schlosshügel hinauf, müssen wir überlegen, welchen Weg wir nehmen. Ich schwenke – virtuell – in den Rebweg nach links. Die vermummten Papp-Soldaten der Künstlergruppe „koorder“ haben ihre Feuertaufe bereits bestanden – sie haben am 1. August Bundesrat Samuel Schmid vor einer Attacke beschützt – oder sind sie am Ende gar nicht die Beschützer, sondern die Angreifer – bei Kunst ist man nie sicher und das eine ist gerne zugleich das andere. Nein, diese Arbeit wäre 1985 nicht denkbar gewesen – die Neuinterpretation von Medienbildern ist  als Trend eine Geschichte der letzten 15 Jahre und auch die Nähe zum Comic, zur Low-Culture ist in dieser Form eine Phänomen der Jetztzeit.  – Etwas weiter die Ankündigung der Freilegung der Drachenhöhle – hier ist es vor allem die mediale Umsetzung, die ins 21. Jahrhundert verweist. Hier wird eine Legende zum Faktum gemacht und für die Projekt-realisierung Spendengelder eingefordert. Kommt uns dies nicht bekannt vor? Hubert Dechant spielt mit den Verführungsstrategien des Fundraising, löst sie dann aber im Internet  auf und führt die Legende in die Lenzburger Museums-Geschichte zurück.

Ich gehe weiter und zum Schloss hinauf, gelange zur Vase von Beat Zoderer. Flashartig tauchen die wilden Kerle auf ihrem Floss im Fünfweiher-Wald vor dem inneren Auge auf – 1982 war Beat Zoderers Sturm- und Drangzeit – inzwischen spielt er längst mit Geometrie. Die metallene Vase, die kein Wasser behält, die Blumen zum Fest darbieten möchte, deren Beschaffenheit aber an Ritter-Rüstungen denken lässt, bringt etwas von der Ambivalenz zum Tragen, die Zoderers Werk bis heute – wenn auch oft erst auf den zweiten Blick – bestimmt. Hätte die Vase schon 1985 da stehen können?  Wohl schon – Zoderer ist schliesslich schon lange in der Szene mit dabei. Nein, Jürg, ich habe die weisse Schlange am Baum nicht übersehen, aber wir begegnen ihr weiter vorne ja noch einmal. Vorerst ist Schmunzeln angesagt – eine Kanone auf einer gehäkelten Decke. Doch dann erstarrt das Lächeln – nicht nur im Orient machen Teppichmacher Waffen zu Ornamenten. Auch hier und die Verharmlosung der alten Kanone zum Deko-Gegenstand erweist sich gerade in diesen Tagen, da in wenigen 1000 Kilometern Entfernung Krieg herrscht,  als Zynismus pur. Agathe Zobrists & Theres Waeckerlins subversive Strategie geht unter die Haut. Doch nicht nur die Subversion als Mittel zum Zweck ist ein Gegenwartsphänomen, auch der bewusste Einsatz von Kunsthandwerk als Medium wäre anlässlich der „Luftschlösser“ noch nicht denkbar gewesen. – Video in einer Freilichtausstellung; dazu braucht es eine Portion Mut, doch Sonja Feldmeier hat vorgesorgt und das Gehäuse um das Gehäuse ins Projekt integriert. Die Videogeschichte einer Schnecke, die sich auf ihrem Weg um den Globus ihre eigene Welt schafft, ist nicht grundsätzlich neu, aber sie nimmt „Geschichte“ – es wird ja 700 Jahre Stadtrecht gefeiert – sehr schön auf, indem sie zeigt, wie wir alle auf dem Weg durch die Zeit unser eigenes Haus bauen.

Beim Weitergehen sieht man hinunter auf das goldig glänzende „Gräberfeld“ von Ruth Maria Obrist. Just am selben Ort waren 1985 in einer Viertiefung die archaischen Zeichen von Beatrix Sitter platziert. Kunststück, ist doch ein Gräberfeld ein Ort von besonderer Energie, ein kostbarer Kult-Ort, der uns an das Gemeinsame des Menscheins in der Zeit erinnert. Achtung, jetzt gilt es, keine Arbeit zu verpassen – also Abstieg auf die andere Seite des Burghügels und via Video von Tatjana Marusic mit winterlichem Kamerablick wieder hinauf zum „Märchen“-Schloss. Wohnte da oben nicht seinerzeit – ich glaube im 14. Jahrhundert –  ein Habsburger-Prinz, der sehnsüchtig auf seine Braut wartete? Marusic suggeriert uns, dass das damals eine Aschenbrödel-Geschichte gewesen war. Mit filmischen Mitteln malt sie eine zauberhafte Geschichte. Der Zauber ist nicht gratis, denn jetzt gilt es wieder den realen Hügel hinaufzuklettern. Das Himmelsleiterli hat diesmal niemanden inspiriert – macht nichts, anderes lockt. Zum Beispiel die weisse Schlange am Baum der Erkenntnis – Eva, wo bist Du?  So viele Künstlerinnen – das war 1985 auch noch nicht so weit. Gut, dass es jetzt so ist. Jürg Stäuble hat mit den verschlungenen Styropor-Schlangen, die zeigen, wie anpassungsfähig sein Schaffen immer wieder ist,  wohl anderes gemeint, aber – die Gedanken sind frei. 1982 realisierte Rosmarie Vogt im Fünfweiherwald einen „gemachten Wald“ mit Stangen und Zeichen. Jetzt, 2006, macht Serena Amrein etwas Ähnliches, aber ganz anders. Auch sie bringt Abstraktion ein in den Wald, aber sie macht die Bäume selbst zu ihren Protagonisten, indem sie sie mit rot-weissen Bändern, wie wir sie alle kennen, umwickelt. So einfach – scheinbar. Jetzt bin ich mir nicht schlüssig, soll ich Ihnen von Franziska Furters Arbeit im Steinbruch erzählen? So fein sind die Spuren, feenhaft fast und wohl auch ungewollt da geblieben, abgestreift, goldig – mit Gejohle wird man sie übersehen – wie so vieles, das leise ist. Wer’s verpasst, ist selber schuld.

Wir sind jetzt oben auf dem Goffersberg – einst war hier auch Wald, aber dann hat man ihn abgeholzt, damit sich kein Feind in direkter Schlusslinie zum Schloss verstecken konnte. Gillian Whites wunderschöne Skulptur hat wahrlich keinen Grund sich zu verstecken, so majestätisch wie sie da platziert ist und wie man sie nie mehr wegdenken möchte. Es ist klar eine Skulptur und keine Installation – somit etwas, das in den letzten 20 Jahren Kunstgeschichte mehr und mehr verdrängt wurde, vielleicht aber eben dabei ist, wieder zu kommen.

Kunst ist schauen – präzise schauen, wieder schauen. Ursula Mumenthaler frägt danach und zeigt nicht nur mit der im Winter aufgenommenen Fotografie die Veränderung zum Sommer hin, sondern fragt viel allgemeiner, was wir sehen und übersehen, wie zwei- und dreidimensional nicht dasselbe ist. Ihre Foto-Arbeit macht deutlich, wie selbstverständlich Fotografie als künstlerisches Medium in den letzten 15 Jahren geworden ist.

Rückweg. Das Himmelsleiterli hinunter, nochmals ein Blick auf die Facetten des goldenen Schachbrettes, und weiter in den Garten des Peter Mieg-Hauses. Wir übersehen wohl zuerst die Farbstücke von Stefan Gritsch, denn die Geräusche aus der Scheune locken. Was spielt sich da ab? Der Blick durch die Ritzen verrät nicht, was wir erwarten, aber die Worte, die Worte bannen. Theater – sicher,  Wedekind – Frühlings Erwachen. Fast unglaublich, dass er diese Revolte gegen die Unterdrückung der Sexualität im 19.Jahrhundert auf Schloss Lenzburg geschrieben hat. Irene Naef vertraut auf die Bildkraft der Worte – recht hat sie. Der emotionalen Steigerung steht die Reduktion – um nicht zu sagen Verweigerung – der Arbeit von Stefan Gritsch gegenüber. Farbklumpen, verstreut auf dem Boden. Von irgendwoher kommt die Lust, sie zu greifen und mit aller Wucht an die Wand zu schmeissen – eine Art Froschkönig-Märchen – um ihre Farbenpracht explodieren zu lassen.  Stefan Gritsch setzt auf die Kraft des Potenziellen. Hier zweifellos als Antwort auf Peter Mieg, der seine Liebe zu Blumen tausendfach gemalt hat, sittsam,  aber zuweilen, so sagt man, habe er einen Teller zerschlagen müssen, um sich Luft zu machen.