Sind Atelieraufenthalte mehr als Ferien?

Romana del Negro im Atelier Sicaredo in Barbengo (TI)

Stiftungen, Kantone, Städte vergeben Ateliers an Kulturschaffende. In Paris, Berlin, Kairo … oder auch in Barbengo (TI). Die Bielerin Romana del Negro weilt da von April bis Juli 2007.

Anfangs der 1930er-Jahre verwirklichte Georgette Klein (1893-1963) eine Vision. Sie baute auf einem Hügel ob Barbengo vis-à-vis des San Salvatore und unweit von Lugano ein Haus in Stil, Funktion und Geist des Bauhauses, eines der frühesten seiner Art im Tessin. Dass das in seiner architektonischen Substanz praktisch unveränderte Juwel der Moderne heute Kulturschaffenden für Atelier-Aufenthalte vermietet wird, ist eine lange Geschichte (siehe Notiz).

Zur Zeit weilt die Bieler Künstlerin Romana del Negro (39) in der sonnengelben, von üppigem Grün umgebenen „Casa Sciaredo“. „Man fühlt sich wohl hier“, sagt sie, obwohl man der Natur schon sehr unmittelbar ausgesetzt sei. Vor einer Woche legte ein Blitzschlag die ganze Stromversorgung lahm und Eidechsen im Atelier, die „Haus-Schlange“ auf der Gartentreppe und die Fledermaus am Duschvorhang sind keine Seltenheit. Kein Wunder ist die Natur in Romana del Negros Kunst hereingebrochen. „Alles, was ich hier verwende, stammt aus dem Garten; die Mimosen-Rinden zum Beispiel von einem grossen Ast, der beim Sturm brach.“

Die hängende und balancierende Wurzel-, Rinden- und Ranken-Installation in der einstigen Bibliothek von Georgette Klein betrachtend, meint sie ergänzend: „Obwohl alle Teile geschält, gewaschen, „gekämmt“ sind, ist mir die Arbeit im Moment noch zu naturhaft“. Tatsächlich entdeckt man denn auch bereits erste kleine Plastikgewe-be mit geometrischen Mustern und transparente Röhrchen, die Lianen „regulieren“ oder Nester mit farbige Kunststoff-Schnüren. Das ist typisch für die Künstlerin, die in ihren ausufernden, vielfach collageartigen Zeichnungen – man erinnere sich der Arbeiten, die sie an Bieler Weihnachtsausstellungen zeigte – stets Organisches mit Technoidem verbindet, mehr noch, unabdingbar ineinander verkrallt. Obwohl erst in Enstehung begriffen, ist es bereits faszinierend zu sehen wie die Künstlerin die Natur als „Linien“ einsetzt, die Wurzelbündel zu „Hirnformationen“ verfremdet und die Palmenwedel so einkürzt, dass sie zu Waagrechten mit pointierten „Energiezentren“ werden. In Kisten verpackt wird die Arbeit nach Ablauf der Tessiner Zeit nach Biel reisen und daselbst – hoffentlich – in der für die Künstlerin gültigen Form auch zu sehen sein.

Atelier-Aufenthalte gehören heute praktisch zum Alltag von Kunstschaffenden. Viele Kantone, Gemeinden, Stiftungen besitzen Wohn- und Arbeitsräume all überall auf der Welt. Besonders begehrt sind die mit finanzieller Unterstützung ausgestatteten. Bewerben muss man sich aber auch für jene, die eigentlich ganz „normal“ vermietet werden wie dasjenige der „Stiftung Sciaredo“ in Barbengo. „Es wäre schön, man könnte das Haus gratis zur Verfügung stellen“, meint der Zürcher Architekt Willi E. Christen, der die Stiftung präsidiert, aber nicht einmal mit den Mieteinnahmen können die Kosten gedeckt werden….“ Probleme, die auch andere Atelier-Vermieter kennen und die umgekehrt auch die Kulturschaffenden plagen, bedeuten Atelier-Aufenthalte doch meist oft doppelte Kosten: Die Infrastruktur zuhause und die Mehrkosten auswärts, von der Aus-Zeit bei den Existenz sichernden Jobs etc. gar nicht zu reden.

Sind Atelier-Aufenthalte denn wirklich mehr als Ferien, fragen wir Romana del Negro beim Tee im Schatten eines Lorbeer-Baumes. „Wer nach New York fährt, sucht ganz anderes als wer nach Barbengo reist; ich wollte die Natur, ich wollte Distanz nach der raumfüllenden Netzwerk-Installation im Kunstmuseum in Moutier, um weiter gehen zu können“, sagt sie. „Vieles ist bei Atelier-Aufenthalten zweifellos psychologisch, man bewirbt sich um einen Arbeits-Ort, wo zuvor schon viele andere künstlerische Ideen entwickelt haben, so dass man ein Teil davon wird. Hier in Barbengo ist der Geist der Georgette Klein immer noch präsent – die Aussergewöhnlichkeit ihrer Person, ihre innere Freiheit, sich hier etwas zu verwirklichen, dass nur für sie bestimmt war. Das erzeugt eine produktive Atmosphäre. Allerdings muss man es schon aushalten können nur über fernen Baulärm und die nahe Kirchenglocke mit der Zivilisation verbunden zu sein …“

Notiz 1
Georgette (1893-1963) und ihre Schwester Marcelle Klein (1897-1986) wachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen in Winterthur auf. Ihre Mutter ist Louise Châtelain aus Paris, ihr Vater ist Rodolfo Klein, Ingenieur im Direktorium der Sulzer-Werke. Georgette promoviert an der Universität Zürich in Germanistik, ihre Schwester in Geschichte. Beide schliessen ihre Studien mit einer Dissertation ab. Georgette Klein profiliert sich als Autorin kulturpolitischer Texte, als Textilkünstlerin, als Violinistin. Sie wird Mitglied des Schweizerischen Werkbundes, dem zahlreiche Architekten angehören, die sich mit „Neuem Bauen“ auseinandersetzen. 1930 erwerben die Eltern einen „Altersitz“ in Barbengo und ziehen ins Tessin. Georgette Klein lernt daselbst den um einiges älteren Handwerker Luigi Tentori (1882-1955) kennen und heiratet ihn 1931. Nach ihren Plänen und unter ihrer Aufsicht baut er mit „Kollegen“ im Sommer 1932 die im Grundriss 8 x 10 Meter grosse, radikal moderne „Casa Sciaredo“ mit ihren zwei symmetrisch angeordneten Terrassen; goldgelb strahlend und der Sonne entgegen schauend. Für sich selbst richtet Tentori das zum Grundstück gehörende „Grotto“ ein, während Georgette die Casa mit Möbeln von Max Bill, Alvar Aalto und Hans Coray sowie faltbaren Klappbetten bestückt. Mit bescheidenen finanziellen Mitteln lebt das seltsame Paar ein zurückgezogenes Leben, das in ihrem Fall neben Gartenarbeiten auf Lesen, Denken, Schreiben, das Schaffen von Holzskulpturen sowie Theater spielen mit Kindern aus dem Dorf ausgerichtet ist. Nach ihrem Tod, 1963, fällt das Haus an Marcelle Klein, die es als „Werk“ ihrer Schwester unangetastet belässt.

Notiz 2
1984 verfasst der Architektur-Student Lukas Meyer eine erste Arbeit zur Bedeutung der Casa Sciaredo für das Moderne Bauen in der Schweiz.
1985 erlaubt Marcelle Klein Winterthurer Künstlern, das verlotterte Haus zu nutzen und notdürftig in Stand zu stellen.
Nach ihrem Tod, 1986, geht die Casa Sciaredo an den Kanton Zürich.
1996 wird die Sitftung Sciaredo gegründet. Das Haus soll renoviert und Kulturschaffenden zur Verfügung stehen.
Erst nach Jahren ermöglicht ein Legat endlich die Durchführung der dringenden Renovation.
Seit 2000 wird das Haus von Kulturschaffenden aus der ganzen Schweiz für jeweils 3 bis 6 Monate genutzt.
Der Mietzins beträgt zur Zeit 1000 Franken pro Monat. Anfragen sind zu richten an W.E. Christen, Freiestr. 135, 8032 Zürich, Tel. 044/ 383 70 30, Fax 044, 383 16 26