Marcel Stüssi (1943-1998) – Ansprache Buchpräsentation Liestal 2009

Einsam und weltsüchtig – Monographie – Stämpfli-Verlag

Ansprache anlässlich der Buchvernissage „Marcel Stüssi“ in der Hanro-Wirkstatt in Liestal, 26. April 2009

Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Den ersten Kommentar, den ich nach dem Erscheinen der Monographie „Marcel Stüssi“ im Stämpfli Verlag hörte, war: „Du bist die denkbar ungeeigneste Person, einen Text zu Leben und Werk von Marcel Stüssi zu schreiben“. Dabei hatte ich doch in der Zeit des Recherchierens zuweilen das – berührende –  Gefühl, zu „hören“ wie sich Marcel Stüssi ins Fäustchen lacht und denkt, „die habe ich erwischt“.

Und zwar darum, weil ich schon zum dritten Mal einen „erstmaligen“ Text zu Marcel Stüssi vorbereitete. Beim ersten Mal, 1986, hatte ich keine Ahnung. Ich kannte Marcel Stüssi nicht zuvor, man hatte mich aber gewarnt, es würde mich Zeit kosten, wenn ich den Künstler persönlich in der Galerie treffen wolle. Ich wollte aber – nicht wegen Marcel Stüssi spezifisch, sondern weil ich mich, schon seit den Anfängen meiner Kunstschreiberei in den frühen 1970er-Jahren, immer am liebsten mit den Kunstschaffenden traf, um daraufhin einen Text zu schreiben.

Andere  Kritiker – insbesondere Kunsthistoriker alter Schule –  verzichten gerade darauf, aber mir schien mein Weg authentischer, weil es mir immer darum ging (und geht), die Wechselwirkung zwischen Mensch und Bild zu spüren. Das war natürlich im Fall von Marcel Stüssi ganz besonders ergiebig. Denn ihn zu hören, wie er über den 2. Weltkrieg spricht, wie politisch er seine Bilder versteht, wie die Weltgeschichte sein Thema ist und nicht etwa Selbst-Darstellung, das machte ihn für mich auf Anhieb zum unverwechselbaren Künstler, einem kurligen, queren, nicht angepassten, aber zweifellos engagierten.

Bei diesem Text von 1986 ging es nicht um Überwältigendes. In Aarau fand in der kleinen, aber bezüglich Programm bemerkenswerten „Werkstatt-Galerie Jules Gloor“ schräg vis-à-vis vom Kunsthaus eine Einzelausstellung mit Arbeiten auf Papier statt. Stüssi war damals 43 Jahre alt – mir kam doch nicht in den Sinn, dass mein Text fürs Aargauer Tagblatt die erste Kunstkritik sein könnte, die sich ausschliesslich mit Stüssi beschäftigt. In den 1980er-Jahren schrieb man sich doch die Finger wund über Kunst und Künstler – das waren die Boom-Jahre.

Aber Marcel Stüssi ging immer am Boom vorbei – als er in den späten 1960er-Jahren – also 20 Jahre zuvor! – in Aarau, unweit der kleinen Galerie wohnte und zunächst am Bachgraben, dann in einem zugemieteten Atelier in Gränichen, seine geomtrischen, später der Pop-Art verwandten „Aarauer Arbeiten“ schuf – kam er damit nicht einmal in die Weihnachtsausstellung – heute gehören diese Arbeiten dem Kunsthaus – Stüssi vermachte sie dem Aargauer Museum testamentarisch und dieses nahm das Geschenk an, was heutzutage als Wertschätzung bezeichnet werden kann.

Ich gerate ins Erzählen – kein Wunder, wenn man monatelang quasi im riesigen Nachlass von Marcel Stüssi „wohnte“.

Dass mein wirklich nicht zu überschätzender Text damals die erste Kunstkritik zu Marcel Stüssi war, habe ich übrigens erst bei den Vorbereitungen für die Monographie, die wir heute feiern, herausgefunden. Sie hat aber den Künstler bleibend in mein Gedächtnis eingeschrieben und sie war wohl mitentscheidend, dass ich 1992 angefragt wurde, ob ich einen Katalogtext zu Marcel Stüssi schreiben möchte. Eingedenk der ersten Begegnung – der später weitere, aber nicht so eingehende Kontakte folgten – sagte ich „ja“ – wieder nicht wissend, wie wenig Ernsthaftes bis dahin über Stüssi geschrieben wurde.

1992 – das war nur sechs Jahre vor seinem Tod – und da war gerade in Basel, wo Stüssi häufig an Vernissagen und anderen Kunst-Events war, die nichts kosteten, aber zumindest ein oder zwei oder drei Gläser Wein versprachen, da grassierte längst das Stüssi-Phänomen: Man kannte ihn, man schätzte ihn als Figur der Basler Kunstszene, man fand sein Werk (so weit man es kannte) eigenständig, man wusste  – mehr oder weniger – um die Multimedialität seines Werkes, aber: mit ihm ins Gespräch kommen wollte man nicht, denn erstens wollte man sich nicht mindestens eine halbe Stunde mit ihm „duellieren“ und zweitens war einfach die Gefahr, dass man schon nach ein paar Minuten „Krach“ mit ihm hatte, zu gross.

So liess man es lieber damit bewenden, ihn zu sehen wie er da stand, halbseitlich an die Wand gelehnt, den einen Fuss über den anderen, um eine gewisse Verlegenheit zu kaschieren, ein Glas Wein in der Hand und ein seltsam stummes Lächeln auf dem Gesicht.

Ich hatte den Bonus der Aussenstehenden, so sagte ich ohne Zögern „ja“ zum Auftrag einen Katalogtext zu schreiben. Und machte mich auf ins Atelier des Künstlers, um mit ihm über sein Werk zu diskutieren. Ob ich ein- oder zweimal da war, weiss ich nicht mehr genau, aber ganz sicher weiss ich, dass ich tief beeindruckt war, dass ich keinen Streit mit dem Künstler hatte, er mir die Türen zu seinem ganzen Werk öffnete, insbesondere auch die Deckel zu den Schachteln mit den Fotografien aus den 1970er-Jahren lüftete.

Damals als er diese experimentellen Fotos der Kunstwelt gerne gezeigt hätte, dies sporadisch auch konnte, dachte niemand daran, Fotos als Kunstwerke zu kaufen. Heute gehört der gesamte Foto-Nachlass (die beiden für Stüssi späten Aufnahmen hier sind eine Ausnahme) dem Fotomuseum Winterthur (nicht der Foto-Stiftung, die eher Dokumentarisches sammelt, sondern dem Fotomuseum, das künstlerische Ansätze bewahrt). Als der Foto-Boom dann kam, war Stüssi längst anderswo. Vorsicht: Ich komme schon wieder ins Erzählen und Sie wollen ja nicht den ganzen Nachmittag hier stehend verbringen.
So also, die Zeit im Atelier mit Marcel Stüssi hat sich tief in meine Erinnerung eingeschrieben. Wir standen dann auch da in seinem engen, aber wohlaufgeräumten Kasernen-Atelier und legten ein Bild nach dem anderen auf den Fussboden und für einmal riss sich der Künstler zusammen, übergoss mich nicht mit Thesen und Philosophien. Ich merkte gar nicht, wie viel Respekt er mir entgegenbrachte und wie sehr es ihn wohl Kraft kostete, mir so gesittet zu zeigen, was seine Kunst ist. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er Harry Zellweger damals noch glaubte, er würde ihn nun in den Kunstmarkt einführen und für ihn beginne eine neue Ära.

Es kam dann anders – in der Regel holt einem der eigene Schatten ja immer wieder ein. Mein Text entstand jedoch aufgrund dieser berührenden und nachhaltigen Atelierbesuche und enthält nichts von den folgenden Querelen mit dem Galeristen, die Stüssi knallhart damit konfrontierten, dass der Markt mit Kunst ein Business ist wie jedes andere und dort, wo es um Geld geht, wenig mit Mäzenatentum zu tun hat. Und das ging ihm nicht in den Kopf. 

Jetzt komme ich dem Auftrag, den Text zu Leben und Werk dieser Monographie zu schreiben endlich näher: Beruhte der Text von 1992 quasi auf einer „Aargau-Connection“, ist es jetzt – darum Stüssis Schmunzeln aus dem Jenseits – eine „Berner-Connection“. Denn nicht nur ich war in der Zwischenzeit an den Bielersee, woher ich in der Mutterlinie stamme, umgezogen, sondern auch Marcel Stüssis Nachlass. Und weil ich als Kunstkritikerin sowohl nationale wie lokale Netzwerke beschritt, kannte ich selbstverständlich Regina Larsson respektive ihre Galerie im idyllisch-abgelegenen Siselen im Grossen Moos ennet dem See. Und so war es aus dieser quasi gemeinsamen Reise heraus in gewissem Sinn wieder nahe liegend, dass ich auch den Text zu diesem Buch schreiben würde.

Umsomehr als ich in der Zwischenzeit mehrere Buchtexte zu verstorbenen Künstlern respektive Künstlerinnen geschrieben hatte und wusste, wie enorm spannend – mehr noch, wie intim es sein kann, den Nachlass eines Menschen aufzuarbeiten, der seinem Leben über Jahrzehnte gestaltend ein Gesicht gegeben hat und dies in vielen „Nebenprodukten“ wie Tagebüchern, Agendas, Briefen usw. festgehalten hat.
Ich habe also mit Überzeugung zugesagt und innerlich gewusst, dass Marcel Stüssi mich dabei begleiten würde. Wie sehr es mir den Ärmel hineinnehmen würde, wie ich es nie schaffen würde, die Fülle in den ursprünglich geplanten Textumfang zu packen, wusste ich damals freilich noch nicht.

Aber es ging einfach nicht anders: Da öffnete sich eine solche Wundertüte, da war so viel, von dem auch ich keine Ahnung hatte, da wurde so viel Mensch spürbar hinter all dem, was Stüssi in seinem Leben geschaffen hat, da kam mir jemand so nah, dass ich schlicht und einfach unfähig war, einen kürzeren als den nun gedruckten Text zu schreiben. Da war immer noch etwas, da war nicht nur das Frühwerk, die Fotografien und die Malerei, da verzweigte sich das Werk immer noch einmal, breitete sich in der Mail-Art wie ein Rhizom rund um den Erdball aus, hüpfte in den Gedichten von der Weltgeschichte zu Weinflecken auf dem Papier, von anrührender Anteilnahme am Tod eines kleinen Vogels bis zur Wut, ob dem Leben und der Welt und allem überhaupt. Und da war der Überlebenswille dieses Menschen, der dem Untergang immer getrotzt hat, „einsam und weltsüchtig“, wie es sein Mail-Art-Freund Hansruedi Fricker einmal formuliert hat und wie es schliesslich dem Buch den Titel gab. Ein Mensch, der es zwar zuweilen nicht aushielt und in die Fänge des Alkohohls geriet, dabei Mitmenschen vor den Kopf stiess, der sich seine Not aus dem Leib schreien musste, aber schliesslich doch nur um die eigene Vision, ein Künstler zu sein, kämpfte. Vielleicht nicht einer der grössten, nicht einer, dessen Werk, die Welt bewegt, aber einer der Leben und Werk zu einer Einheit verband und darin stets und immer sich selbst blieb. Und das ist viel.

So schrieb ich bis zum Schluss und schickte das Manuskript schliesslich mit dem Kommentar an Regina Larsson, ich würde ihr nun mal den ganzen Text schicken, sie solle ihn lesen und kommentieren, damit ich daraus herausspüren könne, wo und wie ich ihn schliesslich auf das erlaubte Mass kürzen könne. Ihr Kommentar war kurz und bündig: „Nicht kürzen“. Das ist Regina – engagiert, immer die Grenzen sprengend, immer Anteil nehmend und darum ohne Zweifel die richtige „Mutter“ für den verkäuflichen Spätwerk-Nachlass, in den wir hier einen Einblick nehmen können.

Mein Text führte in der Folge als logische Konsequenz auch dazu, dass sich die Zahl der Bilder vervielfachte, dass schliesslich – wie das die Geldgeber auch erwarteten –  die gesamte Multimedialität des Künstlers zum Ausdruck kommt (mit einem Abstrich beim Film). Das Buch ist nicht abschliessend, es ist eine Annährung, auf der künftige Forschung aufbauen kann. Es ist nicht eine definitive Analyse der verschiedenen Sparten und auch nicht eine definitive Vernetzung aller Ausdrucksformen, aber – hoffentlich – eine Art Klammer um das Gesamtkunstwerk, das Marcel Stüssi in gut 30 Jahren künstlerischer Arbeit geschaffen hat.
Ich mag ihnen das, was ich schrieb in meinen Worten nicht verdoppeln – Sie sollen ja das Buch erwerben, darin nicht nur meinen, sondern auch die anderen Texte – jenen von Karl Kronig vom Museum für Kommunikation in Bern zur Mail-Art, jenen von Hans-Jörg Müller zu den Gedichten, lesen. Mir ging es hier vielleicht ein bisschen darum, Ihnen aufzuzeigen, dass es so zufällig nicht ist, dass gerade ich den Text zu Leben und Werk geschrieben habe und vielleicht doch nicht so sehr die „ungeeignetste Person“ war (ein Kommentar, der, wie sich später herausstellte, abgegeben wurde, bevor die betreffende Person den Text gelesen hat).

Um Ihnen dennoch eine Idee vom Buchinhalt zu geben, lese ich Ihnen zum Abschluss die Eingangsseite, die quasi zusammenfasst, was sich danach im Einzelnen ausbreitet:

„Es ist paradox“, schreibe ich zu Beginn, „ da ist das Leben eines Künstlers immer wieder von Misserfolgen geprägt. Doch weil das Schaffen wenig Resonanz hat, bleibt es weitgehend beisammen.  Und macht es so erst möglich, dass wesentliche Teile des vielfältigen Werkes nach dem Tod in öffentliche Schweizer Sammlungen gelangen.
Das klingt  nach Van Gogh. Und ein wenig Rührung ist angebracht, aber gleichzeitig ist vor Vergleichen zu warnen, denn  nüchtern betrachtet ist die Sache wesentlich anders. Marcel Stüssi notierte einmal, er wisse nicht so genau wie weit sein Leben von Anpassungs-Schwierigkeiten respektive Anpassung-Widerstand geprägt sei. Beides natürlich, und in der Potenzierung war es die Krux, die ihm das Leben so schwer machte, zugleich,  gerade deswegen, sein vielfältiges Werk aber auch so spannend.

Er rannte gegen alles, gegen Traditionen und Klisches, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Dabei hatte er stets die Welt im Visier. Die Brille, durch die er schaute, war aber zugleich seine eigene, persönliche, biographische. Das eine im andern.

Die Kunst war für Marcel Stüssi eine Form von Sprache, ein Medium, in dem er sich äussern konnte, ohne dabei direkt mit anderen Menschen kommunizieren zu müssen. Er machte nie Kunst um der Kunst willen, er wollte, vor allem im späteren Werk, mitteilen, seine Meinung, seine Erregung, seine Wut und verkappt auch seine Sehnsüchte zum Ausdruck bringen.

Er war kein Theoretiker, er schaffte, indem er handelte, indem er Papiere schnitt und zu Worten fügte, indem er Objekte zweckentfremdete,  Fotografie auf Geste reduzierte, Abbilder durchlöcherte, mit der Kamera Statisches aus den Angeln hob, Bilder  zerstückelte und neu zusammenfügte, indem er malte, zeichnete, schrieb, kopierte, umsetzte, neu formulierte….. und das Chaos schliesslich ordnete;  mit Signatur, mit Datum, mit Titel, mit Listen, Verzeichnissen, Übersichten. In Schubladen, in Schachteln, in Ordnern war bei seinem Tod (fast) alles geordnet, bereit (und wohl darauf angelegt) nach seinem Leben ein zweites Leben zu beginnen, ohne ihn und doch mit ihm und durch ihn“.

Dann beginnt es beim Anfang: „Marcel Stüssi wurde am 9. Juni 1943 in Sargans geboren…  und da müssen Sie jetzt selbst weiterlesen; ich bedanke mich fürs Zuhören.