Maurizio Battaglia im Espace libre Pasquart Biel 2010

Vielleicht ist Gott nur eine kleine Zelle

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 26. Januar 2010

Welch ein Glück; da füllt einer eine Lücke im Programm des Espace libre. Und Biel kommt unverhofft zu einer spannenden Begegnung mit einem italienischen Künstler, der Robert Walser über alles liebt.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele bildende Künstler Robert Walser nicht nur  entdeckt haben, sondern in hohem Masse verehren. Zu ihnen zählt Maurizio Battaglia (geb. 1971) aus  Cesena in der Nähe von Ravenna.  Er fühle sich Walser verwandt, weil auch er das Grosse nicht vom Kleinen, das Nichts vom Ganzen, das Wichtige vom Unwichtigen habe trennen können, schreibt Battaglia im Begleittext zu seiner Ausstellung „Fragmente eines Spaziergangs“ im Espace libre des Centre Pasquart.

Tatsächlich fokussiert der rote Faden durch die fünf installativen Objekt-Arbeiten, die Battaglia in Biel zeigt, so etwas wie die Unmöglichkeit etwas auf eine einzige Aussage herunterzubrechen. Da sind zum Beispiel  eine Vielzahl unterschiedlicher, geschwärzter Ovale, die sich einer Landkarte gleich ausbreiten, auftürmen und wieder zu Inseln vereinzeln. Auf fast jedem findet man ein in altertümlichen Druckbuchstaben goldfarben aufgemaltes Wort: „Walser“ natürlich, aber auch „Cèzanne“, „Sentiero“, „noir“, „disabitato“, „Broodthears“, „or“  oder „Berry“. Daneben gibt es auch kleine silberne Zeichnungen, eine Erdbeere zum Beispiel.

In der Interpretation weiter hilft der Titel: „Fratelli Limbourg“ – Paoul, Harmant und Jeahannequin aus Limburg haben um 1415 das berühmte „Stundenbuch des Duc de Berry“ gestaltet. Wie Battaglia in einem Interview sagt, interessiert  ihn nicht Dokumentarisches, sondern der Lauf der Zeit (der Stunden), die nicht linear sei, sondern eine Gleichzeitigkeit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem beinhalte. Und so begegnen sich eben, Fra Angelico, der Duc de Berry und Robert Walser im Fadenkreuz der Weltgedanken Maurizio Battaglias.  Es ist eine berührende Arbeit mit viel poetischer Substanz.

Wie aber kommt der Norditaliener, der  dem aufliegenden Katalog folgend, bereits ein beachtliches Werk aufzuweisen hat, ausgerechnet nach Biel? Wie meistens, durch Zu-Fall. Die in Italien und Frankreich aufgewachsene Bieler Künstlerin Aurélie Jossen (geb. 1977) kannte Battaglia schon als Mädchen, besuchte in zeitlichem Abstand dieselbe Kunstschule und blieb ihm freundschaftlich verbunden. So ist Battaglia denn auch nicht zum ersten Mal in Biel, hat hier sogar von einer Atelierpräsentation her einige Werke eingelagert. Dem Espace libre über Kurator Lekou Meyr nahe stehend, machte Jossen den Vorschlag die kurzfristige Lücke im Programm des Visarte-Off-Space Battaglia anzubieten. Und dieser packte die Chance, denn „mit der Möglichkeit, in der Geburtsstadt von Robert Walser ausstellen zu können, erfüllt sich mir ein lang gehegter Wunsch“.

Die weiteren Werke in der Ausstellung unterlegen die Thematik der Unfassbarkeit universeller Zusammenhänge. „Vielleicht ist Gott nur eine kleine Zelle“, sagt er in einem Interview. Faszinierend ist zum Beispiel ein aus Bienenwachs, Kirschen- , Pfirsich- und anderen Fruchtsteinen geformtes Objekt, das schwamm- oder pilzähnlich aus der Mauer wächst. Dazu gehört ein linsenähnliches Licht-Objekt, in dessen Inneren man einen reich verästelten Baum, vielleicht auch eine Art Skelett, sieht. Der Titel, „Pseudoentomologia“, verweist auf Insektenkunde und meint hier wie anderswo die Komplexität, die Unermesslichkeit das Phänomen Leben ergründen zu können.  Anders und ähnlich auch ein laborähnliches „Instrument“, das 365 übereinander geschichtete, beschriftete Plastikfolien beinhaltet, als ginge es darum, sie zu schütteln, um den einen, übergeordneten Gedanken herauszudestillieren zu können.

An Paul Klees Credo „Nulla dies sine linea“  schliesslich erinnert das als Edition konzipierte „Überlebensset für Künstler“ mit 365 kleinen Zettelchen, auf die täglich ein Strich zu setzen ist.

Info: Bis 21. Februar. Der Espace libre ist parallel zu Kunsthaus und Photoforum Pasquart geöffnet. Mi – Fr 14-18, Sa/So 11-18 Uhr.

Bildlegende:

Maurizio Battaglia: „Fratelli Limbourg“ oder Begegnungen in der Zeit, Installation (Ausschnitt). Bild: azw