Ursula Hirsch_Vernissageansprache_Brugg_2010

Der Mensch ist ein Haus ist eine Pflanze

Vernissagerede anlässlich der Einzelausstellung von Ursula Hirsch in der  städtischen Galerie im Zimmermannshaus in Brugg

4. Juni 2010

Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Liebe Ursula

Nachdem AZ Kulturchefin Sabine Altorfer am letzten Dienstag einen ersten Rundgang durch die Ausstellung gemacht hatte, fragte Ursula Hirsch die Kunstkritikerin nach ihrem ersten Eindruck. Und es kam die Antwort, die sie gefürchtet hatte und bestens kannte. Nämlich: „Es überrascht, dass all diese Werke von ein und derselben Künstlerin sind.“ Ich habe dann nicht mehr hingehört, was Ursula Hirsch entgegnete, wir hatten zuvor schon darüber diskutiert. Vielleicht sagte sie in einem Anflug von Krebs-Verhalten: Das bin halt ich. Ich hätte ihr am liebsten zugeflüstert: Frag sie doch, ob es denn spannender wäre, wenn sie wie Niele Toroni arbeitete, der seit den 1960er-Jahren mit dem Pinsel Nr. 60 unterwegs ist und seine sich maximal durch verschiedene Farben unterscheidenden Markierungen vornimmt. Nun, die beiden haben sich sicher gefunden, kennen sie sich doch seit Jahren.

Aber ich gebe gerne zu, dass auch ich – und ich nehme an im Einklang mit Ihnen allen – eine längere Weile brauchte, bis ich die Melodie hörte. Bis  ich plötzlich realisierte, warum im Zentrum der Ausstellung ein Karussell steht und ich mich in Gedanken auf einmal hinein zu stellen vermochte und der Vision der Künstlerin gleich die Arme emporheben und mich freudig drehen konnte und das ganze Alphabet – so der Titel einer Hauptarbeit hier –  das ganze Alphabet Ursula Hirschs in Schwingung zu versetzen vermochte. „Hei, all das gehört zu meinem Leben“, schienen die Arbeiten mir zuzurufen.

Agnes Martin schrieb einmal, dass sie all die feinen horizontalen Linien nur ziehe, um nach der Fertigstellung eines Bildes ein Moment des Glücks zu empfinden. Ich glaube fast, Ursula Hirsch hat dieses wunderbare, hand-geschmiedete – hören Sie noch einmal hin – hand-geschmiedete… Eisen-Karussel nur darum konzipiert und von Ueli Weidmann realisieren lassen, um genau dieses Glücksmoment zu spüren. Auf der Foto, die Ursula Hirsch gemacht hat, ist es ein junger Mann, der mit erhobenen Armen im Karussell steht und symbolisch den Kraftwirbel in Gang setzt. Was hat denn schon nur eine einzige Facette? Aber ich bin überzeugt, Ursula ist auch selbst hineingestiegen und hat sich lachend im Kreis gedreht.

Es sind acht Viertel-Elipsen, die sich aus dem Fuss-Kreis ausfächern und von drei gelochten Reifen gehalten werden. Hochpräzise wohlverstanden. Ein Haus soll man nicht bauen, wenn man nichts von Materialien, von Statik, von Hand-Werk versteht!

Jetzt in der Ausstellung wäre es nicht ganz so einfach, ins Karussell hineinzukriechen und mit den Armen die Elipsen nachzuformen, denn die Künstlerin hat auf einem Acker ausgegrabene und getrocknete Blacken einerseits und frischen Winterweizen andererseits über die Kreisbänder gehängt. „Der Mensch ist ein Haus – ist eine Pflanze“ steht im Ausstellungstitel.

Blacken sind der Schreck der Bauern – weil die Kühe sie nicht mögen, fressen sie sie nicht und so können sie ungestört versamen. Was sie mit List und Tücke gemacht haben und darum fast rund um den Erdball ihren Platz beanspruchen. Ihre Art der Globalisierung. Der Weizen hingegen ist dem Bauern lieb, wenn er wächst, er kann ihn verkaufen oder selber dreschen, die Körner zu Mehl mahlen und Brot backen. „Le pain urbain“ hiess doch einmal eine Arbeit von Ursula Hirsch – sie ist sogar da, wie von weit her eingeblendet in den Schwung des Karussells. Und auf dem Zwischenboden ruht auf einer Konsole ein verkohltes, kleines Brot – eine Spur in der Zeit.

Spüren Sie es – langsam beginnt sich unser Blick auf das Werk von Ursula Hirsch zu weiten und an den Synapsen verknüpfen sich die Fäden.

Die Blacken und der Weizen stehen für zwei gegenläufige Lebensäusserungen – ich will sie hier nicht ausformulieren, ich glaube, es reicht, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir alle beide Kräfte in uns selbst kennen, die vereinnahmende und die Nahrung gebende.

Wir spüren nun aber das Feld, in dem sich die Kunst Ursula Hirschs entfaltet und zwar nicht nur im Karussell, sondern gesamthaft. Nämlich in der Präzision des Gebauten, der Architektur zum einen, dem Ausdruck der Ambivalenz, der Vielfalt, der Vorstellungskraft des Lebendigen zum andern. Und beides im Menschen verkörpert.

Ich mache jetzt einen Bruch und setze an einem andern Ort an, um die beiden Stränge  dann hoffentlich verknüpfen zu können.

Vor einem Jahr rund durfte ich ein Gespräch mit Ursula Hirsch moderieren. In ihrem Atelier in Zürich. Sie hatte zu einem Open Atelier – Wochenende eingeladen. Im Hinblick darauf habe sie aufgeräumt, erzählte mir Ursula Hirsch damals, und vieles entdeckt, was sie längst vergessen hatte, ihr nicht mehr bewusst war, vor allem nicht dessen Einfluss auf ihr Leben und Wirken.

Aufräumen ist eine Art Retro-Spektive. Und wenn man plötzlich realisiert, dass man seit mehr als 25 Jahren an der Kunst-Arbeit ist und dass eigentlich alles mit allem in Zusammenhang steht, so ist das etwas Berührendes. Es ist wie ein Karussell. Und es ist wie diese Ausstellung und wie keine Ausstellung von Ursula Hirsch zuvor.

Allerdings hatte sie dazu bereits 2007  einen Boden gelegt. Sie hat ein Alphabet geschaffen. Bei Alphabet denken wir an A, B, C, D… etc. und ein klein wenig sind die Fotografien von Bildern, von Objekten, von geometrischen und organischen Motiven auch tatsächlich ein ABC. Aber die Tatsache, dass die Künstlerin selbst die Zuordnungen nachschauen muss, zeigt, dass das wohl nicht die Essenz ist. Und gleichwohl – es sind Versatzstücke ihres Schaffens, die sich wie Buchstaben oder Wörter immer neu gruppieren lassen und neue Sätze innerhalb eines gegebenen Ganzen bilden. Es ist das ABC ihres Werkes! Da war also schon vor dem Aufräumen das Bedürfnis, die eigene Arbeit neu zu sehen. Nicht chronologisch, nicht als Entwicklung von A nach B, sondern als dynamische Gleichzeitigkeit innerhalb eines Lebens.

Der Mensch ist ein Haus- ist eine Pflanze – 3 Zimmer. – Zwei dieser Zimmer haben wir ansatzweise besucht  – es ist das Haus, die Geometrie, das in Material Verdichtete, das Gebaute, das Raum bietet für das Pflanzliche, das Menschliche, das Emotionale, das Farbige, das Kreisende, das Schwingende. Als drittes „Zimmer“ kommt nun – meines Wissens erstmalig – ein biographisches hinzu. Bisher hat Ursula Hirsch Persönliches immer in eine quasi abstrakte Form verwandelt. Sie baute wohl Plattformen für persönliche Gespräche, aber sie selbst trat nie in Erscheinung. Sie tut es auch jetzt nur indirekt, aber  der Verweis ist doch eindeutig.

Da gibt es nämlich in einer aus dem Alphabet heraus weiter entwickelten Serie von sieben Fine Art-Drucken auf Gewebe das Hochzeitsfoto ihrer Emmentaler Grosseltern Rosa und Alfred Leibundgut-Rothenbühler. Es datiert von 1910 – entstand also just vor 100 Jahren. Darüber geblendet ist eine Art Lichtkubus – dabei handelt es sich um die früheste, als Kunst definierte Arbeit von Ursula Hirsch; von 1982. Sie habe damals eine ganze Nacht lang eine kleine hölzerne Kiste mit Velolämpchen ausgeleuchtet und fotografiert, erzählte sie dazu. An die 100 Diapositive gebe es von jener Nacht, die ihr – damals 30-jährig –  die Gewissheit gab, künftig als Künstlerin arbeiten zu wollen.

Indem sie die beiden Fotografien verschmilzt, gibt sie ihrer Arbeit, die für sie selbst und für ihren Einstieg in ein Leben als Künstlerin steht, einen biographischen Hintergrund. Sie deutet auf eine Entwicklung, die ihr Tun heute als eines sich von Generation zu Generation entfaltendes zeigt; als Bekenntnis, dass man als Mensch weder losgelöst ist von der Evolution als Ganzes noch vom Magnetfeld der familienspezifisch möglichen Gen-Konstellationen.

Ursula Hirsch zieht das dann weiter, indem sie den anderen Arbeiten aus derselben Serie den gleichen sich vom Diapositiv her ergebenen Rahmen gibt und somit auch die weiteren Facetten ihres Werkes in diesen biographischen Kontext stellt. Gezähmt gewiss, aber doch präsent.

Und es bleibt nicht dabei. Ursula Hirschs Vater  war von Beruf Schmied. Ein Leben lang hat er für die SBB geschmiedet. Und so ist es denn ein kleiner Gedankenweg,  das hand-geschmiedete Karussell auch als Hommage an Ursulas Vater zu lesen.

In einem Mail schrieb mir die Künstlerin einmal:

„Lange stellte ich mir die Werkstätte der SBB vor, mit dem Dampfhammer, der auf riesige, glühende Klötze runterfiel, der diese quasi zerquetschte bis zum Punkt, wo das gelbrote Stück die gewünschte Form angenommen hatte. Gefährlich, schwer, schwarzstaubig war es da, heiss vorne, hinten kalt in der ungeheizten Werkstatt. Eine Arbeit in Prozessen, nicht etwa am Fliessband, jedes Stück ein Einzelstück, sorgfältig vorbereitet und geplant, komplexer im Ablauf als angenommen. Mein Vater war mein Held, der Führer des Feuers und des Eisens. Einer, der vom Geist in der Materie etwas verstand. Ein Hühne, starker Mann – doch im Familienalltag war er der Verletzte und der Trauernde, ein ehemaliger Verdingbub, der er bis zum Schluss geblieben war, da half die grösste Glut nicht drüber hinweg. Diese Dualität kommt mir sehr bekannt vor, die suche ich wohl auch in der Kunst immer wieder.“

Mit diesem Zitat will ich das Karussell nicht zu nahe an diese Hommage binden, sondern über das Inhaltliche hinaus etwas vom Temperament, von der Vorstellungskraft, von der Liebe zur Sprache, zu Geschichten in unsere Betrachtung der Kunst von Ursula Hirsch einfügen. Denn Begeisterung ist ein wichtiges Moment für ihr Schaffen. Man höre ihr zu, wenn sie von der Genialität des Wespennestes spricht, das sie seit langem hütet und in diese Ausstellung mitgebracht hat, als Beispiel für die Kombination von Architektur und Natur, wie sie sie auch in ihrem Werk anpeilt.

Es gäbe noch viel mehr, das man einzeln betrachten könnte. Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen.

Wichtiger ist mir, dass wir nun quasi drei Register haben, mit denen wir die Kunst von Ursula Hirsch betrachten können. Zwar gibt es Arbeiten, die näher beim „Gebauten“, Arbeiten die näher beim „Pflanzlichen“ sind und Arbeiten, die direkt ins Erzählerisch-Persönliche, ins Emotionale weisen, aber der Kern liegt letztlich in der Dynamik der Gleichzeitigkeit der drei Komponenten.

Bei den Horizontal-Vertikal-Arbeiten draussen im Hof, geht es nicht einfach um den Dialog von Geometrie in der Kunst und in der Architektur, sondern viel mehr um das Verwobene, um das Feld, das ein leuchtfarbiges „Gitter“ schafft und uns so kraft seiner Farbe mit einbezieht in den Raum des in der Zeit Gebauten, des von Efeu Überwachsenen. Durch die Verwendung von Materialien, die das Bauen heute gleichsam begleiten – sei es in den Kleidern der Arbeiter, in der Abdichtung oder in der Sicherheit – schafft Ursula Hirsch darüber hinaus einen Mensch-Bezug, der uns als die Bauenden, die Gestaltenden definiert.

Ja, das Einbeziehen des Menschen ins Bauen und ins Gebaute ist letztlich vielleicht das Zentrale. Sehr schön erleben wir es in der grossen Fisch-Aug-Fotografie im oberen Stockwerk, das eine an sich im rechten Winkel gebaute Haus  im Haus-Konstruktion zeigt, sich aber durch die 360 Grad-Aufnahme-Technik so rundet, dass sie uns auch aus der Fläche heraus einfängt und durch die Viertel-Elipse mit welcher sie in den Raum ausfächert, sogar auf Parameter des Universums verweist.

Dennoch können wir feststellen, dass das Pflanzliche, das unmittelbar den Menschen Symbolisierende in dieser Ausstellung gegenüber früher eine deutliche Verstärkung erfahren hat.

Es bleibt mir die Frage, wie sich denn das Werk Ursula Hirschs in den Kunstkontext einfügt. Selbstverständlich nicht linear. Da gibt es Arbeitsweisen wie zum Beispiel der Einbezug des Computers respektive dessen Software als Bild-  und als Farbgestalter, als massgebend für Proportionen und Ausdrucksqualität, die ganz klar und eindeutig auf das frühe 21. Jahrhundert verweisen. Und da ist auch das Medium Fotografie, mit dem Ursula Hirsch seit den frühen 1980er-Jahren experimentiert. Und da ist das Architektonische, das in der Kunst der letzten 20/30 Jahren zu einem eigentlichen Topos geworden ist. Und da ist das Plastische, das Ursula Hirsch entgegen dem Main-Stream des Kunst-Marktes immer als wichtige Gestaltungsform vorangetrieben hat.

All diese medialen Momente, die Ursula Hirschs Werk als schillernden und breit gefächerten Ausdruck zeitgenössischer Kunst definieren, sollen indes nicht verstecken, dass da als wesentliche Essenz auch ein sehr starkes Moment aus den 1970er-Jahren mitschwingt. Damit meine ich die starke inhaltliche Komponente, die Ursulas Werk als ein in beuysschen Sinne der Bewusstwerdung dienendes ausweist. Es geht um den Menschen und damit auch das eigene Ich in der Welt, um sein Vernetztsein in grösseren Zusammenhängen, um die Fähigkeit zu denken, zu fühlen, zu bauen und zu gestalten. Mystisches, Philosophisches, Psychologisches ist Gegenwärtigem in der Zeit, in der Stadt, in der Gesellschaft gegenüber gestellt. Der Mensch ist ein Haus, ist eine Pflanze – jetzt und schon immer.