Anatoly Shuravlev im Museum Pasquart in Biel 2011

Die Welt und die Unmöglichkeit sie zu sehen

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 15. Jan. 2011

Heute wird im Museum Pasquart unter anderem die Ausstellung Anatoly Shuravlev eröffnet. Der bekannte russische Konzeptkünstler hat erstaunlicherweise eine emotionale Beziehung zum Seeland.

Wie kommt ein 1963 in Moskau geborener und 2009 repräsentativ an der Biennale Venedig beteiligter Künstler dazu, seine erste Museums-Einzelausstellung in der Schweiz im Pasquart zu inszenieren? So fragen sich sicherlich viele. Die Antwort geht auf ein Erlebnis vor mehr als 20 Jahren zurück. In der Zeit der Perestroika setzte sich der Schweizer Botschafter in Moskau, Paul Jolles, enorm für die zeitgenössische russische Kunst ein und brachte diese unter anderem nach Bern.

Auf der Suche nach Aufenthaltsmöglichkeiten für seine „Schützlinge“ kontaktierte er den Erlacher Galeristen René Steiner und so kam es, dass Anatoly Shuravlev und seine damalige Partnerin Maria Serebriakowa  Ende der 1980er-Jahre drei anregende Monate lang in Erlach lebten. Davon hörte damals auch die aus Erlach stammende Gymnasiastin Dolores Denaro und verfolgte ab diesen Zeitpunkt die Entwicklung des immer wieder ins Seeland zurückkehrenden Künstlers. Die Ausstellung, die heute im Pasquart eröffnet wird, ist quasi das Resultat dieses Beziehungsnetzes. Wobei hinzukommt, dass Shuravlev seit rund 20 Jahren exklusiv von einer Schweizer Galerie vertreten wird. Der Luzerner Urs Meile ist denn auch einer der wichtigen Leihgeber für die einen Zeitraum von rund 15 Schaffensjahren ausspannenden Ausstellung.

Anatoly Shuravlev wurde in den 1980ern stark von den im Untergrund tonangebenden „Moskauer Konzeptualisten“ geprägt. Obwohl durchwegs mit Fotografie arbeitend, betont er, kein Fotograf zu sein, sondern ein Konzeptkünstler, der sich mittels der Fotografie mit der Wahrnehmung von Bildern auseinandersetze. Und zwar sowohl im Sinne einer Verdeutlichung, wenn es um die Zeit geht als es noch keine Fotografie gab, wie der Zersplitterung der Bildwelt in der Wahrnehmung der sich täglich durch die Flut zappenden Gesellschaft heute. Hier wie dort geht es letztlich um die „Unmöglichkeit“ der Repräsentation, der Abbildung von Wirklichkeit.

Für ersteres stehen in der Ausstellung in Biel zum Beispiel aus  mittelalterlichen Holz-Skulpturen heran gezoomte, fotografisch vergrösserte und in markantes, braunes Hell-Dunkel gestellte Apostel-Köpfe.  Für zweiteres steht insbesondere die Installation in der Salle Poma, die  zunächst durch tropfende schwarze Farbe rund herum in ein kantenscharfes Oben und Unten getrennt ist.  Auf den zweiten Blick erkennt man auf der „Blutbahn“ eine unendliche Zahl kleinster, runder Fotografien, auf denen man vage Figuren, Gesichter, Körperteile, Raumfragemente und mehr erkennt, aber dennoch nicht zuordnen kann. Es seien alles Fernseh-Bilder, sagt Shuravlev; kontrollieren kann man es nicht.

 „Temporary Visual Wound“ betitelt er die Installation. Ob das „romantisch“ oder „moralisch“ zu verstehen sei, fragen wir den teilweise in Berlin lebenden und daher gut deutsch sprechenden Künstler. Die Malerei und die Fotos, sagt er, stünden in einem markanten Kontrast und machten so zwei Formen visueller Repräsentation sichtbar. Mehr könne und wolle er nicht interpretieren. Und so zeigt sich letztlich auch hier wieder der „rote Faden“, die Triebkraft des Suchens und das Scheitern an der „Unmöglichkeit“.

Nennt er die frühe Apostel-Serie „Impossible Photography“, so betitelt er eine ganz neue Reihe grossformatiger Foto-Arbeiten hinter Plexiglas mit „Impossible Painting“. Wie in allen Arbeiten geht er auch darin von eigenhändig analog fotografierten, gefundenen Bildern (Magazine, TV, Internet, Film) aus. In einer  der schwarz-weissen Arbeiten ist dieses gefundene Bild die Vervierfachung eines altmodischen elektrischen Stuhls. Die Bildschärfe ist indes von breiten, expressiven Pinselgesten gestört. Man fragt sich erneut, ob der Künstler damit eine emotionale Komponente einbringen wollte, doch auch hier verweist er lediglich auf die „zwei Sprachen“ der Fotografie und der Malerei, die sich gegenseitig in Frage stellten. Shuravlev bearbeitet hierbei einen kleinen Fotoabzug, den er anschliessend wieder fotografiert und auf 180 x 124 Zentimeter aufbläst.

Es gibt unzählige Künstler, die mit gefundenen Bildern arbeiten und sich mit der Wahrnehmung von Bildern auseinandersetzen. Shuravlev arbeitet in einem vielbeackerten Feld. Was seine Position überzeugend macht, ist die Konsequenz und die Dauer, mit und in der er seine Fragestellung in immer neue Kontexte und Repräsentationsformen einzubringen vermag. Denn das gibt der Fragestellung Tiefe. Sehr schön zusammengefasst ist sein Anliegen in der Fotografie, welche auf der Einladungskarte abgebildet ist. Sie zeigt ein Auge von der Seite, in dessen Pupille sich ein im Dunkel davor „hängender“ kleiner geistförmiger Lichtfleck zu spiegeln scheint. Unbeantwortet bleibt dabei, welches der Sender und welches das Abbild ist.

 

Bis 13. März 2011