Flavio Paolucci bei Silvia Steiner in Biel 2011

Das unhörbar Gesprochene erlauschen

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 1. März 2011

Bis ins Jahr 1970 reicht Flavio Paoluccis Beziehung zu Biel zurück. Seit der ersten Teilnahme an einer Plastikausstellung hat er acht Mal bei Silvia Steiner ausgestellt. Und jetzt wieder.

„Flavio Paoluccis Arbeiten der letzten Jahre sind erfüllt von Stille. Sie sind nicht stumm, sie schweigen nicht. Man muss in sie hineinhorchen und das unhörbar Gesprochene erlauschen“. Das schrieb der Kunstkritiker Peter Killer 1981 im Katalog zur Niklaus von Flüe-Ausstellung in Sachseln.

Was vor 30 Jahren galt, gilt heute gleichermassen. Ja sogar die „Quattro simboli per quatro muri“, die er damals als Rauminstallation zeigte, könnten jetzt bei Silvia Steiner präsentiert werden und die Galerie-Besucher würden sie problemlos als Werke des 1934 geborenen Tessiner Künstlers erkennen. Nach kurzen Sturm- und Drang-Jahren im Umfeld der Arte Povera, fand Paolucci bereits in den 1970er-Jahren zu einer reduzierten, zeichenhaften, lyrischen Sprache, die sich in stetigen Nuancen erweiterte, im Kern aber stets dieselbe blieb.

In Beschreibungen wurde oft von Traumzeichen gesprochen, von den „Resten eines Traumes“, die sich zeigten. Paolucci selbst spricht in Interviews immer wieder von seiner Kindheit – auch heute, da er 77 Jahre alt ist. Die Zeit um 1940 in einem Tessiner Seitental sind Sieben-Meilen-Stiefel weit entfernt von unserem Leben heute. Und doch können wir uns diesen Bezug gut vorstellen, den Wald, das Laub, die kindliche Phantasie, das Spiel mit Ästen, das Versteck in der Waldhütte. Übersetzt in seine künstlerischen Arbeiten auf Nepalpapier mit wenigen, meist farbigen Zeichen wie ein Haus, ein Blatt, ein Weg, ein Stab, den Mond und mehr. Übertragen in Wandskulpturen mit Ästen, ja sogar Baumfragmenten aus Holz oder Bronze, mit Stäben und Kugeln und Plattformen. 

Vor 30 Jahren ordnete man Paoluccis Werk in den Kontext der „Individuellen Mythologien“ – das heisst einer künstlerischen Vision, die sich selbst ein spirituelles „Zuhause“ einrichtet. Selbst Peter Killer schrieb 1981 vom „Astralleib“ der Werke Paoluccis. Heute mögen wir diese Sprache nicht mehr, aber Paoluccis Werke erfreuen sich ungebrochen grossen Zuspruchs; wichtige Galerien im Tessin, in der Romandie, in der Deutschweiz vertreten ihn, darunter Silvia Steiner, die ihn seit 1982 in Drei- bis Vier-Jahres-Abständen zeigt; eben jetzt zum neunten Mal.

Paolucci gibt im Gespräch ein Stichwort, das weiter führt. Er spricht von Kunst schaffen als Form des Überlebens. Vielleicht könnte man noch weiter gehen und sagen: Kunst als Ritual. Der Künstler lebt seit den 1970er-Jahren in Biasca – einem 5000-Seelen-Dorf in der Nähe von Lugano. Täglich ist er im Atelier, das direkt an sein Wohnhaus angrenzt. Ferien mag er nicht.

Täglich legt er seine Formen aus, nimmt, zum Beispiel, eine Kordel, legt sie auf das tags zuvor mit Farbe und wenig Russ aus dem Kamin eingeriebene Nepalpapier, schaut wie sie sich legen will, spürt ihre Schwingung, klebt sie auf und schneidet dann ein Oval aus, bemalt es so wie er den Mond hat leuchten sehen in der Nacht und setzt es in die Spannweite der Kordel. Ein paar wenige Form gebende Zeichen kommen hinzu, dann ist die Balance gefunden, das Bild schwebt zwischen sichtbarem Da-Sein und einer Dimension, die unsere unstillbare Sehnsucht nach Leichtigkeit anspricht. Paolucci spricht von Transparenz und Gleichgewicht. Und davon, dass er sie täglich neu schaffen müsse, „um zu überleben“.

Der Künstler hat diese Haltung konsequent verfolgt, hat in Kauf genommen, dass Junge ihn überrundet haben und sieht sich jetzt im Alter plötzlich als Vertreter „neuer Langsamkeit“, die für ihn so gar nicht neu ist, gefeiert.

Bis 26. März 2011. Mi, Do, Fr 14-18 Uhr, Sa 14-17 Uhr. Apéro mit dem Künstler: So, 13. März, 11 bis 13 Uhr.

 

Bildlegende:

oben: Flavio Paolucci in der Ausstellung bei Silvia Steiner in Biel. Links das Werk: „la linea della terra, la linea della vita“, Bronze, 2009.  Bild: azw

unten: Arbeit auf Nepalpapier, 2010. Bild: azw