Victorine Müller lässt ihre Haut singen

Museum Bellerive: „Zweite Haut – Kunst und Kleidung“. Bis 08.09.2002

An der Vernissage von „Zweite Haut – Kunst und Kleidung“ im Museum Bellerive in Zürich liess Victorine Müller ihre Haut singen. 1500 Steppengrillen bezirpten sie. Angespannte Faszination. Und mehr.

Der Körper ist zum Design-Objekt geworden. Kein Wunder ist Kunst und Mode, Kunst und Kleidung ein aktuelles Thema. Eigentlich schon lange, doch noch nie so umfassend, fantasiereich und intensiv wie in den letzten zehn Jahren. Eine Ausstellung, die sich „Zweite Haut – Kunst und Kleidung“ nennt, trifft darum ein Zeitinteresse. Das Museum Bellerive in Zürich, dessen Profil die Grenze zwischen freier und angewandter Kunst ist, zeigt die internationale Wanderausstellung, ergänzt um wichtige, junge Schweizer Positionen; darunter die in Grenchen aufgewachsene Performerin Victorine Müller (geb. 1961). Die fasziniernde Vernissage-Darbietung von „La peau chantante“ ist ab 3. Juli als Videoinstallation in die Ausstellung integriert.

Das Fotomuseum Winterthur zeigt zur Zeit eine Ausstellung, die sich der Mode-Fotografie widmet, der Inszenierung von Kleidung an der Grenze zwischen Kunst und Kommerz. „Die Grenzen seien allenthalben fliessend geworden“, sagt sein Direktor, Urs Stahel. Die Kunst vereinnahmt die Mode und die Mode vereinnahmt die Kunst. Obwohl Berührungspunkte knistern, grenzt sich die Ausstellung im Museum Bellerive davon ab. Hier geht es um die Bedeutung der „zweiten Haut“ für das Erscheinungsbild, das Wohlbefinden, das Ausdruckswollen des Menschen. „Mit dem Thema Kleidung greifen Künstler/-innen eine zentrale kulturelle Kategorie auf und schaffen durch ihre facettenreichen Formulierungen am Beispiel der Kleidung paradigmatische Bilder der heutigen Kultur“, heisst es im Begleitkatalog, und weiter: „Ob die Bezüge historischer, anthropologischer, politischer, soziologischer oder ästhetischer Art sind, immer wird durch das Thema Kleidung etwas für die jeweilige Kultur Erkennbares und Bedeutungsvolles repräsentiert.“

Vergleicht man die Basis der von Evelyn Ortner (Frauenmuseum Meran) konzipierten Ausstellung mit den Zürcher Ergänzungen, so fällt spontan auf, dass Künstler/-innen das Thema in der Schweiz sehr viel körperbetonter abhandeln. Entweder wird das Kleid zum Körper, etwa in den mit Hautmerkmalen bestickten Kleidskulpturen von Susanne Schmidt (geb. 1967 in Wattwil), oder die Kleidung wird zur Haut, zum Beispiel in „mein rock, mein schutz“ der Bernerin Sandra Lemp (geb. 1968). Ihr Jupe ist tragbar, zeigt in seiner Stofflichkeit aber Hautstrukturen und ist zusätzlich durch Polsterungen geformt und geschützt. In Ortners Konzept finden sich hingegen Positionen wie die Lieblingskleider von Angela Dorrer (geb. 1969 in Kanada), die auf Biographisch-Persönliches hinweisen oder eine Federhose von Eve Ganot (geb. 1951 in Bruck), die sowohl Ethnologisches wie die Bedeutung des Feminismus für das Thema Kunst und Kleidung antippt. Ein spannendes Bindeglied zwischen den beiden Ausrichtungen bilden die gestrickten „Verwendungsstücke“ von Petra Stüben (geb. 1961 in Bremen“, die in ihrer farbigen Vielarmigkeit plastische Qualitäten zeigen, ihren Sinn aber im bewegten Spiel von Körper(skulptur) und Wollstück haben, wie ein Video es sehr schön zeigt.

Die Körperbetontheit der Zürcher Beiträge ist nicht verwunderlich, hat sich die Schweizer Kunst in den letzten 10 Jahren doch vor allem in diesem Bereich international positionieren können. Man denke an Pipilotti Rist, an Daniele Buetti und zum Beispiel auch an Victorine Müller, deren körperbetonte Performances seit Mitte der 90er Jahre international gezeigt werden. „La peau chantante“, bei welcher sich die Künstlerin in eine doppelwandige Plastikhülle „einschweissen“ liess, in der 1500 als Reptilienfutter gezüchtete Steppengrillen zirpten (sie singen am intensivsten ab 35 º Celsius) illustriert den Titel „Zweite Haut“ fast wortwörtlich. Doch ist ihr Zweck ist hier und in anderen Beispielen nicht Kleidung im herkömmlichen Sinn, sondern viel eher Gefäss, um Körpererfahrung auszuweiten und dadurch im Aussenbereich sicht- und erfahrbar zu machen. Im konkreten Fall die Unmöglichkeit auszuhalten, die den Körper in seiner Integrität (scheinbar) bedrohenden Grillen abzuwehren, sie für eine Stunde als singende Haut zu akzeptieren.

Die Ausstellung, die Dolores Denaro der Künstlerin im Frühling 2000 im Kunsthaus Grenchen gewährte, zeigte die Viefalt und die Radikalität mit welcher die Künstlerin sich selbst oder auch Freunde kontrollierten Grenzbereichen (Sauerstoffverknappung zum Beispiel) aussetzt, um ausgeweitete Körperlichkeit zu erfahren und die Zusehenden in die emotionale Erregung miteinzubeziehen. Bezogen auf sich selbst sagt Victorine Müller im Grencher Katalog: Während einer Performance „erlebe ich mich jeweils in einem tranceartigen Zustand, mit klarem Bewusstsein, intensiver Wahrnehmung und Präsenz“. Das war gewiss auch in Zürich so, wobei die klimatischen Bedingungen bei 32º Hitze extrem waren, was das Publikum, das die sich geradezu verflüssigende Künstlerin ohne Abschrankung umstand, zusätzlich in Spannung versetzte.

Mit Arbeiten von Beat Huber, Adidal Abou-Chamat, Victorine Müller, Petra Stüben, Sandra Lemp, Flurina Rothenberger, Julia Kissina, Alba D’Urbano, Susanne Schmidt, Nicole Tran Ba Vang/Thierry Perez, Manuel Bonik/Undinde Goldberg, Angela Dorrer, Barbara Graf, Michael Lio, Marianne Gostner, Azade Köker, Nada Sebestyén, Eva Ganot, Jo van Norden und Michaela Melian. Der Katalog bietet eine thematische Basis, es fehlen darin aber die Zürcher Ergänzungen.