Dieter Roth-Zeit im „Schaulager“ Basel 2003

Ein Vulkan im Überblick

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 28. März 2003

Das von Herzog & de Meuron erbaute „Schaulager“ im Basler Dreispitz-Areal ist primär für die Kunstsammlung der Emmanuel Hoffmann-Stiftung bestimmt. Doch den Auftakt macht eine gigantische Dieter Roth-Retrospektive.

Ist es nun ein neues Museum oder nicht, das einem „Erdziegel“ (70 x 70 x 20 Meter) ähnelnde „Schaulager“ der Star-Architekten Herzog & de Meuron an der Grenze Basel/Münchenstein? Nein, sagen Maja Oeri, Präsidentin der Emmanuel Hoffmann-Stiftung, und Theodora Vischer, Direktorin des „Schaulagers“. „Hmmm“, sagen die Skeptiker. Und für mindestens vier Monate im Jahr haben sie recht, denn die grösste Dieter Roth-Retrospektive aller Zeiten in der riesigen Soussol-Halle und dem labyrinthischen Parterre ist zweifellos museal, wenn auch im Konzept des Anhäufens und Ausbreitens etwas anders. In den übrigen acht Monaten ist das „Schaulager“ eine Art museales Depot, das die zum Teil raumfüllenden Werke respektive Installationen der Hoffmann-Stiftung für spezifisch Interessierte zugänglich hält. Eine Kostprobe bieten im zeitweilig öffentlichen Sektor der berühmte „Rattenkönig“ von Katharina Fritsch und die eigens eine Unterkellerung fordernde Wasserschacht-Installation von Robert Gober.

Dieter Roth (1930-1998) war der massloseste aller Schweizer Künstler. Als er sich 1986 im „Zischtigs-Club“ vor laufender Fernseh-Kamera besoff, wurde er schweizweit zum Begriff, zum zwiespältigen, versteht sich. Dieter Roth sprengte immer Grenzen. So führte er unter anderem die Schokolade, die Banane und den Käse in die Kunst ein. Um Vergänglichkeit einzubringen. Zugleich war er aber stets darauf bedacht, das (real existierende) „Schimmel-Museum“ (Hamburg) als prozessualen Ort zu erhalten. Das Gegenläufige hielt ihn auf Trab – die Zeit, die vergeht und der Versuch sie zu bewahren. 1996/97 liess er sich in seinem Basler Atelier von Videokameras filmen; Bilder, die nun über eine Monitor-Wand Zeit wieder und wieder abspulen. In unzählige Ordner mit Sichtmäppchen packte er täglich, was ihm im Haushalt an „flachem“ Material in die Hand geriet. Von seiner Wahlheimat Island machte er (respektive seine Kinder und Freunde) nicht weniger als 30 000 Dias, die er über acht Projektoren zum Raum-Kunstwerk band. Und in Büchern und Zeitschriften – unter anderem der „Zeitschrift für alles“ – versuchte er Fülle zu bändigen.

Seine Exzesse, seine Depressionen, seine Rundumschläge machten es in den letzten 20 Jahren schwierig, ihn zu fassen. Er willigte nur in Ausstellungen ein, die er selbst – respektive im Verbund mit seinen Kindern, vor allem Björn Roth – kuratieren konnte. Dahinter steht das, was die Retrospektive in Basel jetzt eindrücklich herausschält. Roth war kein Chaot – sein Werk beginnt im Bern der 50er Jahre nicht zufällig über Geometrie – und er wurde rasend, wenn man ihn als Chaoten behandelte. Er schrieb alles auf, jedes Detail und hatte ein phänomenales Gedächtnis. Wenn da jemand den „Bastler“ auszutricksen versuchte, wurde er fuchsteufelswild (manchmal auch zu Unrecht).

In der Betonung des Frühwerkes einerseits, der klaren Gliederung des Werkes in Kapitel (dies auch im höchst informativen Katalog) wird nun das konzeptuelle Moment in Roths Schaffen klarer denn je ersichtlich. Auch die Gleichzeitigkeit des hervorragenden Zeichners und des scheinbar wirren Komponisten von Assemblagen seines eigenen Alltags. Kunst und Leben in Deckung zu bringen, jedes noch so unscheinbare Ding zu deklarieren, mag zwar zuweilen manische Züge angenommen haben, doch vergass Roth darob nie, was er wollte. Und das macht seine Position in der Kunst des 20. Jahrhunderts unverrückbar.

Der Kunstmarkt hat die Ausserordentlichkeit des rothschen Schaffens schon lange erkannt. Roths Produktivität trug das Seine dazu bei, sprich – es waren stets Werke greifbar, zwei- und dreidimensionale Originale, Kopien, Drucke, Übermaltes, Signiertes usw. Als er zum Beispiel in Cadaquès bei Freund Richard Hamilton weilte, machte er in einem ihm unzumutbar erscheinenden Hundeheim in kürzester Zeit 1600 Schnellzeichnungen! So wundert es nicht, dass jetzt parallel zum Erscheinen des Filmes von Edith Jud, parallel zur „Roth-Zeit“ im Schaulager unzählige Roth-Verkaufsausstellungen stattfinden. Man ist geneigt von „Rothitits“ zu sprechen. Die wollen jetzt endlich einmal alle verdienen, sagte ein (unbeteiligter) Galerist an der Vernissage in Basel.

Katalog (Verlag Lars Müller): 45 Franken. Die Ausstellung wird anschliessend in Köln und New York gezeigt.