www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 23. Juni 2011Lux Standart

Tilo Baumgärtel ist ein Vertreter der „Leipziger Schule“. Seit zehn Jahren ist diese ein Hype des Kunstmarktes. Die „Art Etage“ in Biel zeigt  den 1972 Geborenen erstmals in der Schweiz.

Zuerst ist da die Neugierde. Wie kommt es, dass der in international bekannten Galerien ausstellende Leipziger Maler Tilo Baumgärtel seine Schweizer Première in der Bieler Art Etage gibt. Die Antwort ist einfach: Der 39-Jährige ist der Lebens-partner der Berner Künstlerin Nadine Rüfenacht, die einst nach Leipzig zog, um dort Fotografie zu studieren. Und Vater Rüfenacht steht der Schule für Gestaltung Bern-Biel nahe, die ihrerseits der Art Etage nahe steht. Voilà.

Tilo Baumgärtel ist einer der bekanntesten Schüler des Neo-Realisten Neo Rauch, dem Begründer der „Leipziger Schule“. Das fantastische Vermischen von Stilen, von Versatzstücken aus Kunst, Alltag, Comic und Architektur  kennzeichnet auch die Bilder von Baumgärtel, doch der eine Generation Jüngere ist nicht halb so belastet vom „sozialistischen Realismus“ der DDR-Zeit. Dementsprechend sind seine Bild-Geschichten nicht martialisch;  sie erlauben sich bei allem Bewusstsein für Bild-Komposition und Dramaturgie märchen- zuweilen auch comic-hafter, malerischer, gefühlsbetonter zu sein. Überdies setzt er Farbe nur sehr subtil ein, in den Kohle-Kreide-Zeichnungen, den Tuschblättern fast gar nicht.

Was ihn aber mit Rauch verbindet, ist die Überlagerung von Bedeutungsebenen. Wenn ein nur als flüchtige Zeichnung erscheinendes Mädchen handfest gemalte russische Waffen von einer Brücke in den Fluss wirft, so wirkt das einerseits wie eine Szene aus einem Märchen, hat aber auch einen politischen Hintergrund. Und wenn ein luchsartiges Katzentier zwei Fasane in einer engen Gasse aufscheucht und in Angst und Schrecken versetzt, so ist auch im Mantel verführerischer Malerei auf Leinwand unschwer das Thema von Angst und Einschüchterung zu erkennen.

Es kann aber auch lustvoller sein: Zwei linear gezeichnete junge Musikerinnen – eine Cellistin und eine Geigerin – geraten sich beim Üben in die Haare  und liefern sich eine Prügelei, in freier Natur. Befragt nach dem Hintergrund sagt Baumgärtel : „Purer Voyeurismus“. Das ist interpretationsbedürftig. Denn der Voyeurismus betrifft nicht eine inszenierte Szene, sondern die Lust des Malers, im Prozess des Zeichnens „zuzuschauen“ wie sich die weiblichen Körper krümmen und strecken, wenn sie aufeinander losgehen. Es gibt noch andere Blätter in der Ausstellung, die das bekräftigen.  Das lässt erkennen, dass Tilo Baumgärtel vor allem anderen ein hervorragender Zeichner ist, der ganz offensichtlich über ein stupendes Vorstellungsvermögen verfügt. Denn im Gegensatz zu den meisten gegenständlich Malenden heutzutage, braucht er keine Fotografien welcher Art auch immer als Vorlagen, sondern vermag die Welt quasi aus seinem Kopf aufs Papier zu übertragen. Was ihm  eine Freiheit der Kombination und des Geschichten Erfindens erlaubt, die einzigartig ist.

Wichtigstes Arbeitsinstrument Baumgärtels ist das Skizzenbuch. Hier entwirft er seine Figuren – den knopfäuigen, schwarzen, pelzigen zum Beispiel – hier erfindet er seine Tierwesen, entwickelt er die Szenen, probt er die Vereinzelung von Versatzstücken. Eine Wand im Korridor der Galerie mit Zeichnungen, Drucken, vor allem aber Fotokopien aus den Skizzenbüchern, lässt den kreativen Ort erkennen, wo Baumgärtel seine Welt hinter der Welt erfindet.

Die Art Etage im Areal des Centre Pasquart ist Mi – Fr 14 – 18, Sa 11 – 18 Uhr geöffnet. Die Ausstellung dauert bis 16. Juli.

 

  Bilder: azw